Die Zeitenwende
Kanzler Scholz kündigt Erhöhung der deutschen Militärausgaben um fast 50 Prozent an. Berlin und Brüssel liefern Waffen an die Ukraine, teils finanziert aus der EU-„Friedensfazilität“.
BERLIN/KIEW/MOSKAU (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung stockt den deutschen Militärhaushalt um fast 50 Prozent auf und stellt einen Betrag in Höhe von rund einem Viertel des üblichen deutschen Staatsetats als „Sondervermögen“ für Rüstung bereit. Wie Kanzler Olaf Scholz gestern ankündigte, wird der deutsche Wehretat ab sofort auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht; außerdem erhält die Bundeswehr zwecks Aufrüstung Zugriff auf einen Fonds mit 100 Milliarden Euro. Darüber hinaus wird die Forderung nach weiterer atomarer Aufrüstung Europas laut. Bereits eingeleitet worden ist die Entsendung von zusätzlichen NATO-Einheiten nach Ost- und Südosteuropa, darunter deutsche. Berlin steigt in die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine ein und liefert unter anderem „Stinger“-Raketen, die einst den sowjetischen Streitkräften in Afghanistan herbe Verluste zufügten. Die britische Regierung hilft Privatpersonen, die in einer neuen ukrainischen Fremdenlegion am Krieg gegen Russland teilnehmen wollen. Kanzler Scholz sprach am gestrigen Sonntag in einer Regierungserklärung ausdrücklich von einer „Zeitenwende“. ex.klusiv
Die Büchse der Pandora (II)
EU reagiert mit scharfen Sanktionen auf Russlands gestrigen Überfall auf die Ukraine. Mit dem Krieg reagiert Moskau auf die fortgesetzte Ostexpansion der NATO.
BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) – Mit einem neuen Sanktionspaket reagiert die EU auf Russlands gestern begonnenen Krieg gegen die Ukraine. Das Sanktionspaket, das als „umfassend und schmerzhaft“ bezeichnet wird, zielt unter anderem darauf ab, russische Banken und Unternehmen vom EU-Kapitalmarkt abzuschneiden und die russische High-Tech-Branche möglichst umfassend auszutrocknen. Gleichzeitig setzte die NATO zum ersten Mal ihre Verteidigungspläne für Osteuropa in Kraft. Bei dem Krieg handelt es sich um den zweiten Angriffskrieg einer großen Macht gegen einen anderen Staat in Europa seit dem Ende der Systemkonfrontation; er weist Parallelen zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 auf, dem ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf dem europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Krieg gegen die Ukraine ist Russlands dritter Gegenschlag gegen gezielte prowestliche Provokationen bzw. gegen die stetige NATO-Ostexpansion. Vorausgegangen waren eine umfassende Aufrüstung und kontinuierliche Kriegsübungen der NATO nahe der russischen Grenze sowie der Konflikt um eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. ex.klusiv
Deutschlands neue Wasserstoffwelt
Berliner Regierungsberater plädieren für die verstärkte Nutzung von Wasserstoff als Energieträger. Afrika soll Lieferant werden. Kritiker bemängeln die schlechte Energieeffizienz von Wasserstoff.
BERLIN (Eigener Bericht) – Deutsche Regierungsberater sehen für die Energieversorgung der Bundesrepublik eine „neue Wasserstoffwelt“ heraufdämmern und sagen tiefgreifende ökonomische und geostrategische Umbrüche voraus. Die Umstellung auf eine „grüne“ Wasserstoffwirtschaft werde neue globale Lieferketten hervorbringen, die auf spezielle Rohstoffe angewiesen seien, heißt es bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Der rasch steigende deutsche Bedarf an „grünem“ Wasserstoff als Energieträger wiederum könne aus eigener Produktion unmöglich gedeckt werden; man müsse deshalb Wasserstoff in großen Mengen importieren, prognostiziert die SWP. Als Lieferanten hat die Bundesregierung unter anderem einige Länder Afrikas im Blick; Bundeskanzler Olaf Scholz behauptete auf dem EU-Afrika-Gipfel in der vergangenen Woche, ein Einstieg in die Wasserstoffproduktion zur Belieferung des wohlhabenden Europa biete „eine Entwicklungsperspektive für viele Länder Afrikas“. Unterdessen werden zunehmend Zweifel an der Umstellung auf Wasserstoff als Energieträger laut – nicht zuletzt wegen der hohen Energieverluste bei Produktion und Transport von Wasserstoff. ex.klusiv
Die Büchse der Pandora
Berlin und Brüssel eskalieren den Machtkampf gegen Russland mit neuen Sanktionen. Moskau kann sich bei seiner Ukrainepolitik auf den Präzedenzfall Kosovo berufen.
BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) – Mit schweren Vorwürfen und einer massiven Verschärfung der Sanktionen gegen Russland reagieren Berlin und die EU auf die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk durch Moskau. Unter anderem werden alle 351 Duma-Abgeordneten, die Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung der „Volksrepubliken“ aufgefordert haben, mit Einreise- und Vermögenssperren belegt. Moskau hatte seinen Schritt unter anderem damit begründet, dass keinerlei Aussicht mehr auf eine Umsetzung des Minsker Abkommens besteht. Der Vorwurf trifft vor allem Berlin: Die Verhandlungen zur Realisierung des Abkommens wurden unter maßgeblicher deutscher Regie geführt. Noch an diesem Wochenende riet eine führende deutsche Tageszeitung dazu, die Verhandlungen zwar fortzusetzen, um Russland zu „binden“, die Verwirklichung des Abkommens aber nicht ernsthaft zu forcieren. Moskau betreibt die Anerkennung der „Volksrepubliken“ mit Argumenten, mit denen Berlin bzw. die NATO die Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien gegen den Willen der Regierung in Belgrad erzwangen – ein Präzedenzfall, der in Europa die Büchse der Pandora geöffnet hat. ex.klusiv
Koloniale Reflexe (III)
Bundeswehr gerät in Mali durch Frankreichs Truppenabzug unter Druck. Widerstand gegen die ehemaligen Kolonialmächte wächst im gesamten Sahel. Protest nimmt auch in Niger zu.
BAMAKO/BERLIN/PARIS (Eigener Bericht) – Die Bundeswehr gerät in Mali durch den französischen Truppenabzug und durch harte Reaktionen der malischen Militärregierung auf Frankreichs eigenmächtiges Vorgehen in zunehmendem Maß unter Druck. Die in Mali stationierten französischen Truppen werden, wie Präsident Emmanuel Macron vergangene Woche bekanntgab, aus Mali abgezogen, sollen sich dafür allerdings bis zu einem halben Jahr Zeit lassen. Die malische Regierung, empört, dass Paris es einmal mehr nicht für nötig gehalten hat, die Maßnahme angemessen mit ihr abzustimmen, fordert den sofortigen Abzug. Ohne die französischen Militärs fehlen den deutschen MINUSMA-Blauhelmsoldaten Unterstützung und unter Umständen auch medizinische Versorgung. In Berlin ist umstritten, ob die Bundeswehr in Mali bleiben soll: Einem möglichen Abzug an der Seite Frankreichs steht ein weiterer Einflussverlust im Sahel entgegen. Als grundsätzlich denkbar gilt eine Verlegung von Truppen in Malis Nachbarstaat Niger, dessen Regierung zur Kooperation mit den Staaten Europas bereit ist. Allerdings nimmt auch in der nigrischen Bevölkerung der Unmut über die ehemaligen Kolonialherren zu. ex.klusiv
Die Ukraine und die US-Sicherheitsgarantien
Die USA behaupten weiterhin, ein russischer Einmarsch in die Ukraine stehe „unmittelbar“ bevor. Experten weisen das zurück. US-Sicherheitsgarantien erweisen sich als unwirksam.
BERLIN/KIEW/MOSKAU (Eigener Bericht) – Warnungen vor einem Krieg in der Ukraine haben am Wochenende die diesjährige Münchener Sicherheitskonferenz überschattet. „In Europa droht wieder ein Krieg“, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz; Außenministerin Annalena Baerbock schloss sich an und äußerte, man stehe „vor der greifbaren Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung mitten in Europa“. Die USA und Großbritannien behaupten weiterhin, ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine stehe „unmittelbar bevor“. Fachleute widersprechen. So urteilt die Politikprofessorin Nina Chruschtschowa aus New York, „ein viel größeres Interesse an einer Invasion als Putin“ habe die Biden-Administration: Gelinge es ihr, Moskau zu einem Einmarsch zu verleiten, dann könne sie hoffen, Präsident Wladimir Putin werde gestürzt werden. Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Center, rechnet ebenfalls nicht mit einer russischen Invasion und weist darauf hin, ihre Weigerung, der Ukraine militärisch beizustehen, führe zu einer Schwächung der globalen Position der USA. Behauptungen, Russland plane eine false flag-Operation in der Ostukraine, haben sich nicht bewahrheitet. ex.klusiv
„Teil einer Strategie“
Die Verbreitung unbelegter Behauptungen über einen angeblich kurz bevorstehenden russischen Einmarsch in die Ukraine dauert an. Diverse Desinformationen sind inzwischen nachgewiesen.
BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Außenministerin Annalena Baerbock wirft Moskau „Desinformation“ zur Rückverlegung russischer Truppen aus ihren Manövergebieten in relativer Nähe zur ukrainischen Grenze an ihre regulären Standorte vor. Die „Desinformation“ müsse aufhören, forderte Baerbock gestern; Moskau müsse endlich „volle Transparenz“ gewährleisten. Unterdessen dauern die unbelegten, unter Bezug auf vorgebliche Geheimdienstinformationen formulierten Vorwürfe, Russland werde „in den nächsten Tagen“ in die Ukraine einmarschieren, an. Erwiesene Desinformation sind mittlerweile die auch von US-Präsident Joe Biden geäußerte Behauptung, eine russische Invasion werde am 16. Februar erfolgen, wie auch die Behauptung der britischen Regierung, Moskau plane einen Umsturz und eine Installierung einer prorussischen Regierung in Kiew. Einschätzungen wie diejenige eines ehemaligen britischen Geheimdienstchefs, die Invasionsgefahr werde im Westen hochgespielt, werden ignoriert. Ex-Außenminister Sigmar Gabriel weist auf außenpolitische Folgen der unbelegten Invasionsbehauptungen hin. Letztere schaffen auch im Inland ein Klima der Unsicherheit. ex.klusiv
Neue Hürden
NATO-Verteidigungsminister beschließen Vorbereitungen für die Stationierung neuer Battle Groups in Ost- und Südosteuropa und damit neue Hürden für Verhandlungen mit Russland.
BERLIN (Eigener Bericht) – Mit dem gestrigen Beschluss der NATO-Verteidigungsminister, neue Battle Groups in Ost- und Südosteuropa zu stationieren, stellt das Militärbündnis den Verhandlungen mit Moskau über Rüstungskontrolle und Sicherheitsgarantien in Europa neue Hürden in den Weg. Wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigt, werden in den kommenden Wochen detaillierte Pläne für NATO-Kampftruppen in Rumänien, Bulgarien, Ungarn sowie der Slowakei erarbeitet. Deren Stationierung liefe erneut der NATO-Russland-Grundakte zuwider, mit der die NATO im Mai 1997 die russischen Widerstände gegen ihre Osterweiterung besänftigen wollte; Moskau fordert aktuell ihre Einhaltung ein. Die neuen Battle Groups sind zudem in Bulgarien, Ungarn und der Slowakei heftig umstritten. Während neuer Streit heraufdämmert, zeichnen sich Lösungsansätze für den Konflikt in der Ostukraine und für die Auseinandersetzungen um die geplante NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ab. Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugesagt hat, die Voraussetzungen für die Umsetzung des Minsker Abkommens zu schaffen, äußert er, der NATO-Beitritt der Ukraine sei womöglich nur „ein Traum“. ex.klusiv
„Ein koloniales Modell“
EU-Afrika-Gipfel wird von ernsten Spannungen überschattet. EU-Staaten immer noch nicht zur Freigabe von Impfstoffpatenten bereit. EU will Afrika als Wasserstofflieferant nutzen.
BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Harte Auseinandersetzungen zwischen der EU und der Afrikanischen Union (AU) gehen dem morgen in Brüssel beginnenden EU-Afrika-Gipfel voraus. Die Staaten Afrikas protestieren zum einen gegen die unveränderte Weigerung der Mächte Europas, die Patente für Covid-19-Impfstoffe wenigstens zeitweise auszusetzen. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa hat den reichen Ländern im weiß dominierten transatlantischen Westen erst kürzlich vorgeworfen, „Impfstoff-Apartheid“ zu forcieren. Gleichzeitig weigern sich fast alle EU-Staaten, darunter Deutschland, den Ländern Afrikas Teile der sogenannten Sonderziehungsrechte weiterzugeben, die sie im August 2021 vom IWF erhalten haben, aber nicht benötigen. Mit ihnen ließen sich Milliardenbeträge zum Kampf gegen die Pandemie mobilisieren. Stattdessen plant die EU, die Staaten Afrikas als Lieferanten „grünen“ Wasserstoffs zu nutzen: Er soll Europa bei der Energiewende behilflich sein. Auf dem afrikanischen Kontinent nimmt der Unmut über die EU zu, die Phrasen drischt, aber zur Entwicklung nichts beiträgt; Afrika wendet sich zunehmend anderen Ländern zu – China, Russland oder der Türkei. ex.klusiv
Wer die Standards setzt
Die deutsche Industrie dringt im Konkurrenzkampf gegen China auf stärkere Einflussnahme auf die Festlegung internationaler Industrienormen: Wer Normen setzt, hat einen wichtigen Konkurrenzvorteil.
BERLIN/BEIJING (Eigener Bericht) – Deutsche Wirtschaftsverbände dringen im Konkurrenzkampf gegen China auf eine stärkere Einflussnahme auf das internationale Setzen von Industrienormen. Normen würden in der Öffentlichkeit wenig beachtet, seien aber ein wichtiges „Feld im Kampf um die Vorherrschaft auf den globalen Märkten“, erläutern Beobachter: Wer sie festlegen könne, habe Vorteile beim Export und spare Entwicklungskosten. Würden Industriestandards von anderen Staaten gesetzt, dann bestehe die Gefahr, gegenüber dortigen Konkurrenten zurückzufallen. Unter dem Druck der deutschen Industrielobby hat die EU-Kommission angekündigt, das EU-Standardisierungssystem mit neuen Reformmaßnahmen „schlagkräftiger“ zu machen. Damit solle es möglich werden, sich im „Rennen um einheitliche Standards für die Industrie“ gegen „Konkurrenten wie China“ zu behaupten, erklärt EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton. In der internationalen Normungsorganisation ISO ist der dominante deutsche Einfluss bislang noch unangefochten: 134 ISO-Sekretariate sind deutsch geführt; nur 102 stehen unter US-, lediglich 64 unter chinesischer Führung. ex.klusiv