Die Krisen der EU
Unmut über von der Leyen nimmt vor der heutigen State of the Union-Rede der EU-Kommissionspräsidentin stark zu – wegen ihres Zolldeals mit den USA, ihrer Israel-Politik, dem Mercosur-Abkommen. Letzteres verschärft die Krise in Frankreich.
PARIS/BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Vor der diesjährigen State of the Union-Rede der EU-Kommissionspräsidentin am heutigen Mittwoch schwillt der Unmut über die Amtsführung von Ursula von der Leyen in der EU an. Insbesondere wächst der Widerstand gegen den Zolldeal, den von der Leyen mit US-Präsident Donald Trump geschlossen hat; die einseitigen Zölle, die er vorsehe, seien „illegal“ und untergrüben die Glaubwürdigkeit und die Autonomie der EU, heißt es aus der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Wachsende Proteste löst auch die beinahe bedingungslose Rückendeckung aus, die von der Leyen Israels Kriegsführung im Gazastreifen zukommen lässt. Auf heftigen Unmut stößt zudem, dass die Kommissionspräsidentin das EU-Freihandelsabkommen mit dem Mercosur nun zur Annahme vorgeschlagen hat. Damit könnte Frankreich überstimmt werden, das die Vereinbarung im Interesse seiner Landwirte ablehnt. Dies wiederum droht die Krise weiter zu verschärfen, in der Frankreich – der zweitstärkste EU-Staat – nach dem Sturz von Ministerpräsident François Bayrou am Montag steckt. Mit Blick auf die zunehmende Verschuldung Frankreichs und der Bundesrepublik werden erste Warnungen vor einer neuen EU-Finanzkrise laut.
Die Folgen der Aufrüstung
Nach dem Sturz der französischen Regierung unter Ministerpräsident François Bayrou, der am Montag mit einem Misstrauensvotum in der Nationalversammlung scheiterte, schwillt die Debatte über eine mögliche neue Eurokrise an. Hintergrund ist Frankreichs zunehmende Verschuldung, die mittlerweile mit 3,3 Billionen Euro 114 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht hat und weiter ansteigt – nicht zuletzt, weil Paris den Militäretat drastisch in die Höhe schraubt. Hatte er beim Amtsantritt von Präsident Emmanuel Macron im Jahr 2017 noch bei etwas mehr als 32 Milliarden Euro gelegen, so soll er im Jahr 2027 64 Milliarden Euro erreichen, eine Verdoppelung binnen nur zehn Jahren.[1] Der Anstieg der französischen Staatsschulden hat dazu beigetragen, dass die großen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit des Landes in den vergangenen Jahren gesenkt haben. Dies wiederum hat die Zinsen nach oben getrieben; Frankreich zahlt inzwischen höhere Zinsen als Griechenland und muss dieses Jahr rund 67 Milliarden Euro für den Schuldendienst aufbringen.[2] Dieser könne schon bis 2029 auf 100 Milliarden Euro anschwellen, heißt es. Laut Berechnung von Ökonomen der Commerzbank ist für die frühen 2030er Jahre ein französischer Staatsschuldenstand von rund 150 Prozent des BIP denkbar.[3]
Wege in die Schuldenkrise
Experten sind sich weithin einig, dass ein akuter Absturz Frankreichs in eine Finanzkrise äußerst unwahrscheinlich ist.[4] Dass Wirtschafts- und Finanzminister Éric Lombard kürzlich erklärt habe, man könne bei einem Scheitern von Bayrous Plänen zur Haushaltskürzung eine Intervention des Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht ausschließen, wird von manchen als – gescheiterter – Versuch gewertet, Panik zu schüren, um quasi in letzter Minute Unterstützung für Bayrou zu mobilisieren. Viele urteilen freilich, die politische Krise und vor allem das Erstarken des extrem rechten Rassemblement National (RN), dem ein Sieg in der nächsten Präsidentenwahl zugetraut wird, könne der Wirtschaft heftig zusetzen und in der Tat in eine Finanzkrise münden. Ein Experte vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim spekuliert, die Europäische Zentralbank (EZB) könne eine mögliche RN-Regierung „in die Schuldenkrise segeln“ lassen.[5] Es komme hinzu, dass nun erstmals auch Deutschland sich in riesigem Umfang verschulde, um seine Hochrüstung zu finanzieren; seine Schuldenquote werde von aktuell gut 62 Prozent wohl auf bis zu 100 Prozent des BIP steigen. Sollten die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik senken, sei die Möglichkeit einer Schuldenkrise durchaus gegeben, heißt es beim ZEW.[6]
Bruch mit der WTO
Die politische Krise in Frankreich, dem zweitstärksten EU-Mitglied nach Deutschland, verstärkt vor der diesjährigen State of the Union-Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am heutigen Mittwoch die aktuelle politische Krise in der EU. Hintergrund ist zum einen der Zolldeal, den von der Leyen mit US-Präsident Donald Trump geschlossen hat. Der Deal trägt bedeutenden Interessen der deutschen Kfz-Industrie Rechnung (german-foreign-policy.com berichtete [7]), wird jedoch ansonsten als eine krachende Niederlage der EU eingestuft [8]. Neben der einfachen Tatsache, dass im transatlantischen Handel US-Exporteure künftig keine Zölle zahlen müssen, EU-Exporteure aber Zölle von 15 Prozent, wiegt schwer, dass Zollbegünstigungen für ein einzelnes Land abseits gängiger Freihandelsabkommen das Regelwerk der Welthandelsorganisation WTO brechen. Der SPD-Europaabgeordnete René Repasi stuft die implizite Absage an die WTO als einen „Angriff auf das Herz der europäischen Integration“ ein. Die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Iratxe García, warnt, „die Akzeptanz illegaler einseitiger Zölle“ sowie die Anpassung der EU-Normen „an externen Druck“ unterminierten „sowohl unsere Glaubwürdigkeit als auch unsere Autonomie massiv“.[9] Die Zustimmung ihrer Fraktion zu dem Zolldeal ist damit ungewiss.
Gegen Frankreichs Interessen
Zwar heißt es, der Deal könne in diesem Fall womöglich mit Zustimmung extrem rechter Fraktionen – vor allem der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) – durch das Europaparlament gebracht werden. Allerdings braut sich zugleich weiterer Unmut zusammen. Von der Leyen hat am 3. September das EU-Freihandelsabkommen mit dem Mercosur den Mitgliedstaaten und dem Europaparlament zur Annahme vorgeschlagen – dies vor allem auf deutschen Druck.[10] Bisher wird das Abkommen von Frankreich abgelehnt, weil es den Interessen der französischen Landwirte diametral zuwiderläuft. Paris könnte aber nun überstimmt werden. „Einen solchen Vertrag gegen den Willen Frankreichs zu schließen, wäre einst undenkbar gewesen“, urteilen Beobachter. Mit „Macron als Präsident auf Abruf und einer Regierung“, die in „internen Querelen gefangen“ sei, „scheint es machbar zu sein.“ „Die Folgen für das politische Klima in Frankreich“ aber seien „unabsehbar“.[11] Die RN-Fraktionsvorsitzende im französischen Parlament, Marine Le Pen, hat schon angekündigt, die RN-Abgeordneten im Europaparlament würden ein erneutes Misstrauensvotum gegen von der Leyen einleiten, um gegen das Mercosur-Abkommen zu protestieren. Beobachter spekulieren, der RN könne den in Frankreich verbreiteten Unmut über das Abkommen sogar nutzen, um nationale Neuwahlen zu erzwingen.[12]
Loyal zu Israel
Im Europaparlament schwillt der Unmut über von der Leyens Amtsführung nicht zuletzt aufgrund ihrer faktischen Rückendeckung für die israelische Kriegsführung im Gazastreifen an. Von der Leyen hatte schon in den ersten Tagen des Gazakriegs Proteste in der EU ausgelöst, als sie Israel trotz erster Kriegsverbrechen bedingungslose Unterstützung zugesagt hatte – in Übereinstimmung mit Berlin, nicht abgestimmt in Brüssel [13] – und nicht einmal dazu bereit war, die Abriegelung des Gazastreifens von der Lieferung von Elektrizität und Wasser zu kritisieren [14]. Die Forderung einer wachsenden Zahl an EU-Staaten, Sanktionen gegen Israel zu verhängen, um die Planungen zur Zwangsvertreibung der Palästinenser zu unterbinden [15], hat die Kommissionspräsidentin lange Zeit ignoriert; als sie scheinbar erste Zugeständnisse machte und sich bereit erklärte, die für Israel bestimmten Gelder aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon Europe einzufrieren, scheiterte das an einer Ablehung der Bundesregierung [16], zu der von der Leyen enge Kontakte unterhält. In diversen weiteren EU-Staaten nimmt der Druck zu; am Montag hat etwa Spanien nicht nur ein komplettes Waffenbargo gegen Israel verhängt, sondern auch Schiffen und Flugzeugen, die Waffen oder anderes Gerät für Israels Streitkräfte transportieren, jeglichen Aufenthalt in den Häfen und Flughäfen des Landes untersagt.[17] Heute wird nun aufmerksam beobachtet, ob – und wenn ja, wie – von der Leyen in ihrer State of the Union-Rede zum Gazakrieg Stellung bezieht – umso mehr nach dem gestrigen Terrorangriff Israels auf Doha, die Hauptstadt Qatars.
[1] Emmanuel Macron annonce 3,5 milliards d’euros de dépenses supplémentaires pour la défense en 2026 et 3 milliards d’euros en 2027. lemonde.fr 13.07.2025.
[2] Niklas Záboji: Frankreichs Weg in den Schuldensumpf. faz.net 12.07.2025.
[3] Werner Mussler, Niklas Záboji: Droht eine neue Eurokrise? faz.net 09.09.2025.
[4] Thomas Moller-Nielsen: Pourquoi la crise politique française n’est pas (encore) une crise économique. euractiv.fr 09.09.2025.
[5], [6] Werner Mussler, Niklas Záboji: Droht eine neue Eurokrise? faz.net 09.09.2025.
[7] S. dazu Im Interesse der deutschen Kfz-Industrie.
[8] S. dazu Das Recht des Stärkeren.
[9] Thomas Gutschker: Missmutig aus der Sommerpause. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.09.2025.
[10] Commission proposes Mercosur and Mexico agreements for adoption. ec.europa.eu 03.09.2025.
[11] Jan Diesteldorf, Josef Kelnberger: Die französische Malaise dringt ins Herz der EU vor. sueddeutsche.de 07.09.2025.
[12] Javier Villamor: Le Pen Seeking To Force Elections With Battle Against Mercosur. europeanconservative.com 04.09.2025.
[13] S. dazu Die Glaubwürdigkeit des Westens.
[14] S. dazu Kein Waffenstillstand.
[15] S. dazu Die Riviera des Genozids.
[16] Deutschland blockiert EU-Strafmaßnahmen gegen Israel. dw.com 30.08.2025.
[17] Carlos E. Cué: Sánchez anuncia un decreto para legalizar el embargo total de armas a Israel y habla por primera vez de “genocidio” de los palestinos. elpais.com 08.09.2025.

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