Verhandlungen in Istanbul
Die Wiederaufnahme der Waffenstillstandsgespräche in Istanbul wirft erneut die Frage auf, ob der Krieg nicht schon 2022 hätte beendet werden können. Außenminister Wadephul warnt davor, Russlands Streitkräfte zu überschätzen.
BERLIN/KIEW/MOSKAU (Eigener Bericht) – Mit dem Austausch von Grundsatzpapieren sind am gestrigen Montag in Istanbul die Gespräche zwischen Moskau und Kiew über die Beendigung des Ukraine-Kriegs wieder aufgenommen worden. Im nächsten Schritt würden die Papiere analysiert, hieß es; danach könnten die Verhandlungen fortgesetzt werden. Unterdessen gewinnt der Austausch von Gefangenen zwischen Russland und der Ukraine bereits an Schwung. Der mit dem Neustart der Istanbuler Verhandlungen sich aufdrängende Rückblick auf die Waffenstillstandsgespräche in Istanbul vom Frühjahr 2022 wird bislang von den Leitmedien mit der kategorischen Behauptung unterbunden, Russland habe damals eine inakzeptable Kapitulation der Ukraine verlangt. Detaillierte Analysen auch westlicher Experten beweisen das Gegenteil; sie werfen erneut die Frage auf, weshalb der Westen die damaligen Friedensbemühungen nicht unterstützte oder gar torpedierte. Fragen lässt zudem Außenminister Johann Wadephuls Aussage aufkommen, Russlands „Kriegsmaschinerie“ dürfe man nicht überschätzen. Mit der Behauptung, Russlands Streitkräfte seien schon bald stark genug, um NATO-Staaten anzugreifen, wird die aktuelle Hochrüstung legitimiert.
Faktoren des Scheiterns
Über die Verhandlungen zur Beendigung des Krieges, die Moskau und Kiew bereits am 28. Februar 2022 aufnahmen, liegen inzwischen eine Reihe von Recherchen auch aus westlichen Quellen vor. Im Zentrum steht dabei das Istanbul Communiqué, auf das sich beide Seiten am 29. März 2022 einigten. Es sah eine militärische Neutralität der Ukraine bei gleichzeitig möglicher EU-Mitgliedschaft vor; zudem wurde eine diplomatische Lösung für die Krim in einem Zeitraum von 15 Jahren erstrebt. Auch sollte es Sicherheitsgarantien für Kiew geben, um einen etwaigen erneuten russischen Angriff auf die Ukraine verlässlich zu verhindern. Letztlich gelang es freilich nicht, das Istanbul Communiqué in eine verbindliche Einigung zu transformieren. Auf der Suche nach den Ursachen für das Scheitern kam der Oberst a.D. der Bundeswehr Wolfgang Richter in einer im Dezember 2023 fertiggestellten Studie zu dem Schluss, dafür hätten zum ersten „der Widerstand der nationalen Opposition“ in der Ukraine, zum zweiten „die massive Einflussnahme westlicher Regierungsvertreter“ die Verantwortung getragen.[1] Richter stützte sich auf Aussagen ukrainischer Verhandlungsteilnehmer und des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, der intensiv in die frühesten Verhandlungen involviert war.
Kein Wille zur Diplomatie
Eine ausführliche Studie zu den Verhandlungen im Frühjahr 2022 hat im April vergangenen Jahres auch die US-Fachzeitschrift Foreign Affairs vorgelegt. Sie bestätigt, dass beide Seiten Mitte April 2022 einer Friedensvereinbarung auf der Grundlage des Istanbul Communiqué „sehr nahe“ waren, wie es später einer der ukrainischen Verhandlungsteilnehmer berichtete: „Eine Woche nach dem Beginn seiner Aggression“ habe Russlands Präsident Wladimir Putin „die Schlussfolgerung gezogen“, er habe „einen gewaltigen Fehler“ begangen, und er habe daher „alles ihm Mögliche versucht, um eine Vereinbarung mit der Ukraine zu schließen“.[2] Die Autoren der Foreign Affairs-Analyse halten fest, dass der britische Premierminister Boris Johnson sich bereits am Tag nach der Fertigstellung des Istanbul Communiqué verächtlich über diplomatische Initiativen äußerte. Letztlich habe der Westen insgesamt rasch seine militärische Unterstützung für die Ukraine verstärkt und die Russland-Sanktionen verschärft, anstatt die im April weitergeführten Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew zu fördern, heißt es in der Analyse. Der Wille, die Suche nach diplomatischen Lösungen zu unterstützen, habe im Westen gefehlt. Dabei sei die Bereitschaft beider Seiten, den Krieg zu beenden, überraschend hoch gewesen.
Keine Diskussion
Jede Diskussion über eine auch nur partielle Verantwortung der westlichen Staaten für das Scheitern der damaligen Verhandlungen wird heute in den Leitmedien unterbunden. So heißt es – in offenem Widerspruch zu den zitierten Analysen sowie zu weiteren Untersuchungen –, die Gespräche im Frühjahr 2022 seien „an ultimativen Forderungen Russlands gescheitert, die einer Kapitulation der Ukraine gleichgekommen wären“.[3] Alternativ ist zu lesen, das Istanbul Communiqué sei gescheitert, weil Russland „faktisch eine ukrainische Kapitulation“ verlangt habe.[4] Beim „Faktenfinder“ der öffentlich-rechtlichen ARD heißt es sogar ultimativ: „Waffenstillstand war nicht kurz vor dem Abschluss“.[5] Das kategorische Urteil wird von der ARD noch um eine moralische Disqualifikation ergänzt: Es sei „Teil russischer Propaganda“, heißt es weiter, den öffentlichen Erkenntnisstand über die Verhandlungen in Istanbul „immer wieder aufzuwärmen“ – und zwar, „um eine Täter-Oper-Umkehr zu betreiben“.[6] Für eine ernsthafte Untersuchung der Tatsachen lassen derlei Behauptungen keinen Raum.
„Niederlage nicht zu erwarten“
Dabei werfen aktuelle Äußerungen von Außenminister Johann Wadephul neue Fragen auf. Wadephul erklärte in der vergangenen Woche in einem Interview, „eine komplette Niederlage im Sinne einer Kapitulation des atomar bewaffneten Russland“ habe im Ukraine-Krieg „nicht erwartet werden“ können.[7] Insofern sei aus seiner Sicht „von Anfang an klar“ gewesen, „dass dieser Krieg höchstwahrscheinlich durch eine Verhandlungslösung beendet werden wird“. Nicht wenige deutsche Politiker, darunter Außenministerin Annalena Baerbock, hatten stets gefordert, Russland müsse den Krieg „verlieren“, und damit über lange Zeit sämtliche Appelle abgeblockt, auf eine Verhandlungslösung zu dringen. Ein Verhandlungserfolg im Frühjahr 2022 hätte zahllose Menschenleben gerettet und gewaltige Zerstörungen vermieden. Allerdings hatten Insider bereits damals Zweifel an den Motiven der westlichen Staaten geäußert. So hatte der damalige Außenminister der Türkei, Mevlüt Çavuşoğlu, nach einem Treffen mit seinen NATO-Amtskollegen berichtet, er habe „den Eindruck gehabt“, es gebe „einige NATO-Mitgliedstaaten, die wollen, dass der Krieg andauert“: „Sie wollen, dass Russland geschwächt wird“, urteilte Çavuşoğlu.[8]
Offene Widersprüche
Außenminister Wadephul plädierte zudem dafür, man solle Russlands „Kriegsmaschinerie“ nicht überschätzen.[9] „Immerhin versucht sie seit drei Jahren, ein Ziel zu erreichen, welches Putin innerhalb nur weniger Tage erreichen wollte“, erklärte Wadephul; die russischen Streitkräfte erlitten schwere Verluste, kämen aber dennoch mit ihrem Vormarsch nur langsam voran. Ähnlich hatte sich kurz zuvor Finnlands Präsident Alexander Stubb auf einer Konferenz in Tallinn geäußert. Im Gespräch mit US-Präsident Donald Trump habe er darauf hingewiesen, dass Russland „keine Großmacht“ mehr sei, jedenfalls „nicht ökonomisch“; von seiner Wirtschaftsleistung her sei es „kleiner als Italien und nur wenig größer als Spanien“.[10] Militärisch habe es „die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine schon vor drei Jahren“ attackiert, komme an der Front aber weiterhin kaum voran. Es sei kein Land mehr, das „als Großmacht angesehen werden“ könne. Auch dies steht im Widerspruch zu den stets wiederholten Behauptungen, ein Angriff Russlands auf NATO-Staaten – etwa im Baltikum – stehe in wenigen Jahren bevor. So erklärte etwa Bundeswehr-Generalinspekteur Carsten Breuer am Wochenende gegenüber der BBC, mit einem derartigen Angriff sei spätestens im Jahr 2029 zu rechnen – vielleicht sogar schon früher.[11]
„Russland in den Schatten stellen“
Eine alternative Erklärung zu den massiven Aufrüstungsbestrebungen der NATO-Staaten bot auf der Konferenz in Tallinn Polens Außenminister Radosław Sikorski an. Sikorski erklärte, mit Rüstungsausgaben in Höhe von insgesamt fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts könne man Russland „in den Schatten stellen“.[12] Allein Europa, „ohne die USA“, gebe dann „im Friedensmodus zweieinhalb Mal mehr“ für das Militär aus „als Russland im Kriegsmodus“. Dann müsse man nur noch „das Geld besser ausgeben“, und zwar „auf der Grundlage dessen, was man von der Ukraine lernen kann“ – und anschließend „den Willen haben, all das in die Form einer Kampftruppe zu gießen“. Ob dies dazu dienen soll, Russland totzurüsten, oder ob andere Ziele verfolgt werden sollen, erläuterte Sikorski nicht.
[1] Wolfgang Richter: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wien, Dezember 2023. S. dazu Kein Wille zum Waffenstillstand.
[2] Samuel Charap, Sergey Radchenko: The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine. foreignaffairs.com 16.04.2024.
[3] Kiew und Moskau vereinbaren großen Gefangenenaustausch. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.05.2025.
[4] Raphael Geiger, Florian Hassel: Weit entfernt von einem Frieden. sueddeutsche.de 16.05.2025.
[5], [6] Pascal Siggelkow: Waffenstillstand war nicht kurz vor dem Abschluss. tagesschau.de 30.04.2024.
[7] „Das war von Anfang an klar“, sagt Wadephul zur Frage, wie der Krieg enden werde. welt.de 30.05.2025.
[8] ‘Some NATO allies want longer war for weaker Russia’: FM Çavuşoğlu. dailysabah.com 21.04.2022.
[9] „Das war von Anfang an klar“, sagt Wadephul zur Frage, wie der Krieg enden werde. welt.de 30.05.2025.
[10] Patrick Wintour: Donald Trump is losing patience with Russia, says Finnish leader. theguardian.com 18.05.2025.
[11], [12] Frank Gardner, Tessa Wong: Russia may attack Nato in next four years, German defence chief warns. bbc.co.uk 01.06.2025.

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