Streit um den Waffenstillstand
Deutschland und weitere westeuropäische Staaten verlangen Waffenstillstand vor Beginn russisch-ukrainischer Gespräche. Merz will Waffen, auch den Taurus, geheim liefern. Kiew erklärt Berlin zur „führenden Kraft des Guten“.
BERLIN/KIEW/LONDON (Eigener Bericht) – Außenminister Johann Wadephul und seine Amtskollegen aus sechs weiteren europäischen Staaten fordern Russland zu einem sofortigen Waffenstillstand vor den für Donnerstag angekündigten russisch-ukrainischen Gesprächen in Istanbul auf. Verweigere Moskau dies, dann werde die EU neue Sanktionen verhängen und „sehr viel Druck“ ausüben, erklärte Wadephul nach einem Außenministertreffen am gestrigen Montag in London. Die westeuropäischen Regierungen wollen verhindern, dass Kiew, das sich militärisch in der Defensive befindet, während der Verhandlungen durch Niederlagen an der Front zusätzlich unter Druck gerät. Wie Moskau nach 16 EU-Sanktionspaketen in drei Jahren nun plötzlich so stark bedrängt werden soll, dass es seinen Kurs ändert, ist unklar. Die neue Bundesregierung kündigt unabhängig davon an, Waffenlieferungen an die Ukraine nicht mehr bekanntzugeben. Damit würde auch eine mögliche Lieferung des Marschflugkörpers Taurus geheimgehalten, obwohl sein Einsatz eine aktive deutsche Kriegsbeteiligung erfordert – mit weitreichenden Konsequenzen. Kiew stellt Berlin unterdessen lukrative Geschäfte in Aussicht und lobt Deutschland als „eine führende Kraft des Guten“.
Gespräche in Istanbul
Unmittelbare Gespräche zwischen Moskau und Kiew hatte zuerst Russlands Präsident Wladimir Putin in den frühen Morgenstunden des Sonntags in Aussicht gestellt. Putin lehnte zwar den vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geforderten und zunächst auf 30 Tage begrenzten Waffenstillstand ab, erklärte jedoch im Gegenzug, Russland sei zu Gesprächen ohne Vorbedingungen mit der Ukraine bereit. Nachdem US-Präsident Donald Trump Selenskyj öffentlich aufgefordert hatte, dem Vorschlag „sofort zuzustimmen“, lenkte dieser ein und teilte mit, er sei bereit, sich am Donnerstag in Istanbul mit Putin zu treffen.[1] Gleichfalls am Sonntag gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekannt, die Türkei – einer von nur wenigen Staaten, die über gute Beziehungen zu beiden Kriegsparteien und zugleich über politisches Gewicht verfügen – werde die Verhandlungen wie auch weitere Friedensbemühungen unterstützen.[2] Putin hat zu erkennen gegeben, Moskau wolle in Istanbul nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich an die russisch-ukrainischen Gespräche anknüpfen, die im Frühjahr 2022 in der türkischen Metropole stattgefunden hatten. Sie hatten fast zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts geführt, bis sie auf Drängen unter anderem des britischen Premierministers Boris Johnson von Kiew abgebrochen wurden.[3]
Verhandeln unter Druck
Einwände kommen nach wie vor aus Westeuropa sowie von antirussischen Hardlinern aus Nordamerika. So heißt es etwa beim Washingtoner Institute for the Study of War (ISW), jede Vereinbarung, die auf den im Frühjahr 2022 in Istanbul erzielten Verhandlungsergebnissen beruhe, müsse aus ukrainischer Perspektive als „Kapitulationsurkunde“ eingestuft werden.[4] Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien beharren zudem weiterhin darauf, neuen Verhandlungen in Istanbul solle die Einigung auf den von Selenskyj verlangten 30-tägigen Waffenstillstand vorausgehen. Zur Begründung erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz, „jede Woche“ gebe es „mehrere Tausend Todesopfer in diesem Krieg“: „Das muss jetzt aufhören“. Ein sofortiger Waffenstillstand sei unverzichtbar.[5] Allerdings hatte der Krieg auch schon Tausende Todesopfer pro Woche gefordert, als Merz noch verlangte, die Ukraine müsse ihn gewinnen. Hintergrund für den Umschwung ist, dass die russischen Streitkräfte aktuell die Initiative innehaben und mit jedem Kriegstag einem militärischen Sieg ein – wenngleich nur kleines – Stück näher kommen. Das verstärkt in Verhandlungen den Druck auf die Ukraine. Dies wiederum erklärt, weshalb Moskau einen sofortigen Waffenstillstand ablehnt, Berlin, Paris, Warschau und London ihn aber nachdrücklich fordern. Am Montag schlossen sich auf dem Londoner Außenministertreffen auch Italien und Spanien dieser Position an.
Sanktionen nach „Plan B“
Unklar ist, wie Berlin den Waffenstillstand durchsetzen will. Merz hatte bereits am Samstag angekündigt, wenn Moskau ihn verweigere, dann werde man die Ukraine „nicht nur politisch und finanziell, sondern auch militärisch“ weiter unterstützen und zudem „ein weiteres, umfassendes Sanktionspaket“ verabschieden; dieses werde „die russische Wirtschaft und ... einige Repräsentanten dieses Staates persönlich sehr hart treffen“.[6] Nicht erkennbar ist, wie dies gelingen soll; die Ankündigung der damaligen Außenministerin Annalena Baerbock vom Februar 2022, die EU-Sanktionen würden die russische Wirtschaft „ruinieren“, hat sich bis heute nicht erfüllt. Inzwischen ist die EU sogar gezwungen, für ihre Sanktionen einen „Plan B“ zu entwickeln, da Ungarn angekündigt hat, Strafmaßnahmen gegen Russland nicht mehr umstandslos mitzutragen. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat bereits im April bestätigt, es gebe für den Fall, dass Budapest ein Veto einlege, jetzt einen solchen „Plan B“ – wenngleich Brüssel nach wie vor alles daran setze, Geschlossenheit zu wahren.[7] Laut einem Bericht der Financial Times ziehen es die Mitgliedstaaten in Betracht, ihre Sanktionen notfalls auf nationaler Ebene aufrechtzuhalten. Ob dies in der Praxis ohne größere Brüche machbar ist, ist allerdings ungewiss.
Keine Taurus-Debatte mehr
Auch im Hinblick darauf sucht sich Berlin größere Spielräume bei der Bewaffnung der Ukraine zu verschaffen. Bundeskanzler Merz hat zu diesem Zweck angekündigt, zukünftig nicht mehr im Detail über Waffenlieferungen an Kiew zu berichten. Die Ampelkoalition hatte ihre Lieferungen stets sorgsam aufgelistet, nachdem der damalige Oppositionsführer Merz dies im Frühjar 2022 eingefordert hatte – in der Absicht, die Ausfuhren als unzulänglich zu brandmarken. Jetzt bekräftigt Merz, schon „die Debatte“ um die Lieferung bestimmter Waffensysteme werde „aus der Öffentlichkeit herausgenommen“.[8] Das gelte auch für die Debatte um die mögliche Lieferung des Marschflugkörpers Taurus, mit dem die ukrainischen Streitkräfte Moskau angreifen könnten. Der Kurswechsel wird in Regierungskreisen damit begründet, man wolle „strategische Ambiguität“ herstellen – Russland also im Unklaren darüber lassen, über welche Waffensysteme Kiew verfüge; dies gehöre jetzt zur „Taktik der Kriegsführung“.[9] Allerdings wird damit die Debatte etwa über die Lieferung des Taurus vor allem der demokratischen Debatte entzogen. Angesichts der Tatsache, dass Moskau eine Taurus-Lieferung aufgrund der unverzichtbaren Beteiligung deutscher Soldaten am Einsatz der Waffe als aktive Kriegsbeteiligung Deutschlands werten würde, wiegt dies schwer.
„Deutsche Führung“
Unterdessen bietet die Ukraine für die Zeit nach einem etwaigen Kriegsende Deutschland allerlei recht attraktive Geschäfte an; dies auch mit Blick darauf, dass die Bodenschätze des Landes nach Abschluss des Rohstoffdeals mit den Vereinigten Staaten bevorzugt von US-Unternehmen ausgebeutet werden können und damit für europäische Unternehmen nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind. Wie jetzt der Leiter des Kiewer Präsidialamts, Andrij Jermak, in einem Namensbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mitteilt, sehe die aktuelle ukrainische Energiestrategie „umfassende Investitionsmöglichkeiten für neue Energiekapazitäten in Höhe von 383 Milliarden Dollar“ vor. Auf diesem Sektor arbeite man schon heute im Rahmen der deutsch-ukrainischen „Energiepartnerschaft“ äußerst eng mit Deutschland zusammen.[10] Auch in der Rüstungsbranche könne die deutsche Industrie auf eine höchst lukrative Zusammenarbeit hoffen. Jermak sagt zudem politische Loyalität zu. „Die Ukraine und Europa“ blickten „auf Deutschland als eine führende Kraft des Guten“, schreibt Jermak; „Deutschlands Rolle“ werde „entscheidend sein bei der Definition der Position Europas in der Welt“. Bundeskanzler Merz sei zum Zeitpunkt der Amtsübernahme „mit einer sich so rapide wandelnden geopolitische[n] Ordnung konfrontiert, wie wir es in den letzten 80 Jahren nicht gesehen haben“, fährt Jermak fort: „Die Ukraine und Europa blicken auf Deutschland für Führung“.[11]
[1] Zelenskyy offers to meet Putin in Turkey – as Trump urges Ukraine to hold talks with Russia. news.sky.com 12.05.2025.
[2] Turkey’s Erdogan Tells Putin and Macron Efforts to End Ukraine War at ‘Turning Point’. themoscowtimes.com 11.05.2025.
[3] S. dazu Kein Wille zum Waffenstillstand.
[4] Russian Offensive Campaign Assessment, May 11, 2025. understandingwar.org 11.05.2025.
[5], [6] Merz: „Größte diplomatische Initiative”. zdf.de 10.05.2025.
[7] Henry Foy, Gideon Rachman: EU readies ‘plan B‘ should Trump walk away from Ukraine talks. ft.com 30.04.2025.
[8] Regierung schweigt künftig öfter über Waffenlieferungen an Kiew. n-tv.de 09.05.2025.
[9] Melnyk attackiert Merz für Schweigen über Waffenlieferungen.n-tv.de 12.05.2025.
[10], [11] Andrij Jermak: Was die Ukraine Deutschland geben kann. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.05.2025.

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