Bis zum allerletzten Ukrainer

USA wollen Mindestalter für Kriegspflicht auf 18 Jahre senken; deutsche Politiker fordern weiter Taurus-Lieferung, obwohl dies unter Militärs als Kriegseintritt gilt. Mehrheit in der Ukraine wünscht schnelles Kriegsende.

WASHINGTON/BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Die westlichen Staaten brechen bei ihren Schritten zur Aufrüstung der Ukraine immer neue Tabus und gehen zur Forderung über, das Kriegsdienstalter auf 18 Jahre zu senken und Deserteure deutlich härter zu bestrafen. Bereits vor zehn Tagen hatte die US-Regierung die Lieferung von Antipersonenminen genehmigt, die weltweit geächtet sind. Zudem hatten die USA, Großbritannien und wohl auch Frankreich den Beschuss russischen Territoriums mit weitreichenden westlichen Waffen gestattet; dies ist nicht ohne Beteiligung westlicher Soldaten möglich, die von deutschen Offizieren klar als Kriegseintritt eingestuft wird. Das Gleiche gälte bei für den Taurus, dessen Lieferung nun auch vom Europaparlament gefordert wird. Aus der Biden-Administration sind Überlegungen zu hören, man könne Kiew, um ihm Sicherheitsgarantien gegen Moskau zu verschaffen, mit Atomwaffen aufrüsten. Die US-Regierung dringt zudem auf die Senkung der Altersuntergrenze für die Kriegspflicht auf 18 Jahre. Dabei stellt sich der Westen mit seiner Kriegspolitik erstmals gegen den Mehrheitswillen der ukrainischen Bevölkerung: 52 Prozent wünschen inzwischen Verhandlungen und einen schnellen Waffenstillstand.

„Eine verheerende Entwicklung“

Bei der Aufrüstung der Ukraine haben die westlichen Staaten bereits in den vergangenen Tagen eine Reihe bislang noch bestehender Tabus gebrochen. US-Präsident Joe Biden etwa hat am 19. November die Lieferung von Antipersonenminen aus US-Beständen an die ukrainischen Streitkräfte genehmigt. Einen Einsatz von Antipersonenminen verbietet die Ottawa Convention aus dem Jahr 1999; das Dokument haben bislang 164 Staaten unterzeichnet, zwar nicht Russland und die USA, sehr wohl aber die Ukraine. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, auf die sich auch Washington bei seiner Agitation gegen Russland und China gern bezieht, sind entsetzt. Es handle sich um „eine schockierende und verheerende Entwicklung“, wird eine führende Mitarbeiterin von Human Rights Watch zitiert, während es bei Amnesty International trocken heißt: „Antipersonenminen sind im Kern Waffen, die noch lange nach dem Ende von Konflikten Zivilisten unterschiedslos verstümmeln und töten; sie sollten in den Waffenlagern keines einzigen Staates zu finden sein.“[1] Biden hatte sich im Wahlkampf des Jahres 2020 noch klar gegen den Einsatz von Antipersonenminen ausgesprochen sowie Pläne des damaligen Präsidenten Donald Trump, ihre Nutzung wieder stärker in Betracht zu ziehen, als „rücksichtslos“ verurteilt.[2]

Das „Kriegskriterium“

Nach der Entscheidung der Biden-Administration, den Beschuss von Zielen in Russland mit weitreichenden US-Raketen des Typs ATACMS zu erlauben, haben sich Großbritannien und möglicherweise auch Frankreich dem Schritt angeschlossen. Die ukrainischen Streitkräfte haben russisches Territorium inzwischen mit US-amerikanischen ATACMS-Raketen und mit britischen Storm Shadow-Marschflugkörpern angegriffen.[3] Bereits in der vergangenen Woche erklärte der Sprecher des französischen Außenministeriums Christophe Lemoine auf die Frage, ob Paris Einwände gegen ukrainische Angriffe mit französischen SCALP-Marschflugkörpern auf Ziele in Russland habe: „Es gibt keine rote Linie.“[4] Dass Storm Shadow- bzw. SCALP-Einsätze nur mit aktiver Unterstützung britischer bzw. französischer Soldaten möglich sind, ist allgemein bekannt; Bundeskanzler Olaf Scholz hatte dies bereits im Februar in der Debatte um eine mögliche Lieferung von Taurus-Marschflugkörper mit dem Hinweis erwähnt, „das, was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht“ werde, könne „in Deutschland nicht gemacht werden“.[5] Laut der Einschätzung führender Offiziere der deutschen Luftwaffe erfüllen die dabei nötigen Tätigkeiten das „Kriegskriterium“, bedeuten also den Eintritt in den Krieg: „Beteiligt ist beteiligt“, bestätigte ein Offizier in einem zu Jahresbeginn geleakten Gespräch.[6]

„Beteiligt ist beteiligt“

In Deutschland wird weiterhin auch die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern verlangt. Die Forderung haben zuletzt unter anderem Ex-Finanzminister Christian Lindner, eine Reihe von CDU-Politikern – darunter der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz – und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck öffentlich wiederholt. Nachdem bereits Ende vergangener Woche die Präsidentin des Europaparlaments, Roberta Metsola, Berlin formal aufgefordert hatte, die Lieferung des Marschflugkörpers zu genehmigen [7], hat sich dem am gestrigen Donnerstag das Europaparlament angeschlossen. In einer mit 390 gegen 135 Stimmen bei 52 Enthaltungen verabschiedeten Erklärung heißt es, die EU-Mitgliedstaaten müssten der Ukraine endlich Taurus-Marschflugkörper liefern.[8] Dies richtet sich der Sache nach unmittelbar an die Bundesregierung. Lieferte Berlin den Taurus, dann gälte auch für Deutschland, was schon jetzt für die USA, Großbritannien und womöglich Frankreich gilt: Das „Kriegskriterium“ ist erfüllt; „beteiligt ist beteiligt“.

Atomwaffen für die Ukraine

Dass im Westen sämtliche Tabus fallen, zeigen Berichte, denen zufolge Mitarbeiter der Biden-Administration erwägen, der Ukraine als Sicherheitsgarantie nach der Einigung auf einen Waffenstillstand die Beschaffung von Atomwaffen zu erlauben. Ein solcher Schritt könne „sofort und in hohem Maß abschreckende Wirkung“ entfalten, heißt es dazu; freilich sei er auch „kompliziert“ zu realisieren und bringe „gravierende Implikationen mit sich.[9]

Deserteure härter bekämpfen

Wie am gestrigen Donnerstag bekannt wurde, dringt die Biden-Administration jetzt auch noch darauf, die Ukraine müsse die Altersuntergrenze für die Pflicht zum Kriegsdienst von aktuell 25 auf 18 Jahre senken. Bereits die Senkung der Altersuntergrenze von 27 auf 25 Jahre, die das ukrainische Parlament im April beschlossen hatte, hatte damals beträchtliche Unruhe ausgelöst. Sie habe, heißt es, die Mobilisierung von rund 50.000 neuen Soldaten ermöglicht. Dies genüge allerdings auch nicht annähernd; die Ukraine brauche mindestens 160.000 neue Soldaten, und auch dies reiche nach Einschätzung der US-Regierung nicht aus.[10] Washington verlangt deshalb von Kiew, wie ein hochrangiger Mitarbeiter der US-Regierung berichtet, in Zukunft junge Männer schon ab dem Alter von 18 Jahren zum Kriegsdienst zu verpflichten. Man sei jederzeit dazu „bereit“, die Trainingskapazitäten für junge Rekruten aufzustocken, wird der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA zitiert. Darüber hinaus ist die Biden-Administration laut Auskunft des erwähnten US-Regierungsmitarbeiters fest überzeugt, man könne die Zahl der aktiven Soldaten erhöhen, wenn man „aggressiver“ mit Soldaten umgehe, die desertieren.[11]

Der Westen gegen die Ukrainer

Die Kriegsbeihilfe des Westens, die stets damit begründet wird, man wolle ja nur „den Ukrainern“ zur Seite stehen, unterstützt zwar ganz unverändert die Politik der ukrainischen Regierung, nicht mehr aber die messbaren Wünsche der ukrainischen Bevölkerung. Laut einer Gallup-Umfrage, die von August bis Oktober durchgeführt wurde, sprechen sich bloß noch 38 Prozent der Bevölkerung dafür aus, den Krieg bis zum Sieg fortzusetzen.[12] 52 Prozent – und damit erstmals eine Mehrheit – plädiert für Verhandlungen, um den Krieg so bald wie möglich zu beenden. Es kommt hinzu, dass die Rekrutierung von Männern im Alter von weniger als 25 Jahren noch fatalere Folgen für die demographische Entwicklung der Ukraine hätte, als sie schon jetzt von Experten vorausgesagt werden. Bereits im Juli 2023 (!) war das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleich (WIIW) in einer Analyse der demographischen Kriegsfolgen zu dem Schluss gekommen, der Ukraine stehe „ein irreversibler demographischer Schock“ bevor, weil für den Wiederaufbau wie auch für die gesellschaftliche Entwicklung sehr zentrale Segmente der Bevölkerung – junge Menschen – durch Flucht oder Tod an der Front stark dezimiert worden seien.[13] Eine weitere Senkung des Mindestalters für den Kriegsdienst droht nun jegliche Hoffnung auf eine gedeihliche Zukunft der Ukraine nach dem Krieg demographisch zunichte zu machen.

 

[1], [2] Michael Birnbaum, Alex Horton: Biden approves antipersonnel mines for Ukraine, undoing his own policy. washingtonpost.com 19.11.2024.

[3] Steven Swinford, Oliver Wright: How Putin could retaliate after Storm Shadow strikes on Russia. thetimes.com 20.11.2024.

[4] Ukraine has a right to defend itself against Russian aggression, says France. uk.ambafrance.org 20.11.2024.

[5] „Kann zu Kriegsbeteiligung kommen”: Scholz bekräftigt Nein zu Taurus-Lieferungen. rnd.de 27.02.2024.

[6] S. dazu Das Kriegskriterium.

[7] Metsola fordert von Deutschland „Taurus“-Lieferung. tagesschau.de 23.11.2024.

[8] EU-Parlament verlangt von Mitgliedsländern erneut Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper. n-tv.de 28.11.2024.

[9] Helene Cooper, Andrew E. Kramer, Eric Schmitt, Julian E. Barnes: Trump’s Vow to End the War Could Leave Ukraine With Few Options. nytimes.com 21.11.2024.

[10], [11] Aamer Madhani: White House pressing Ukraine to draft 18-year-olds so it has enough troops to battle Russia. apnews.com 28.11.2024.

[12] Benedict Vigers: Half of Ukrainians Want Quick, Negotiated End to War. news.gallup.com 19.11.2024.

[13] S. dazu „Ein irreversibler demographischer Schock“.


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