Berlin und die Menschenrechte (I)
Mit Abschiebungen nach Afghanistan bricht Berlin zentrale Menschenrechtskonventionen – dies zu einer Zeit, zu der Menschen- und Bürgerrechte auch im eigenen Land in wachsendem Umfang missachtet werden.
BERLIN/KABUL (Eigener Bericht) – Mit dem Beginn von Abschiebungen nach Afghanistan bricht die Bundesregierung zentrale Menschenrechtskonventionen und reißt die von ihr selbstgefällig proklamierte „Werteordnung“ ein. Diesen Vorwurf beinhalten Stellungnahmen von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen zur Abschiebung von 28 Afghanen am vergangenen Freitag. Die Bundesregierung hatte den Schritt, der offenbar schon seit Monaten geplant war, mit dem Terroranschlag von Solingen legitimiert und hervorgehoben, man habe nur Personen nach Kabul zwangsverbracht, die wegen Straftaten verurteilt worden seien. Die Europäische Menschenrechtskonvention und andere auch von der Bundesregierung offiziell anerkannte Rechtsdokumente stufen Menschenrechte als etwas Universelles ein, das allen Menschen zusteht – auch Straftätern. Der Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland warnt, das Vorgehen Berlins sei „mit unserer Werteordnung nicht vereinbar“. Mittlerweile werden Forderungen laut, in Zukunft auch Menschen aus Afghanistan sowie aus Syrien abzuschieben, die sich keines Vergehens schuldig gemacht haben. Zugleich werden Menschen- und Bürgerrechte auch im eigenen Land zunehmend missachtet.
In Nachbarländer abschieben
Pläne, die Abschiebungen nach Afghanistan wiederaufzunehmen, die nach dem fluchtartigen Abzug der westlichen Streitkräfte vom Hindukusch und der Übernahme der Kontrolle über das Land durch die Taliban vor rund drei Jahren eingestellt worden waren, gab es bereits seit einiger Zeit. Weil keinerlei Beziehungen zur Taliban-Regierung bestehen, war im Gespräch, die Abschiebungen mit Hilfe von Afghanistans Nachbarstaaten durchzuführen. Als Vorbild galt Schweden, das Afghanen nach Usbekistan ausfliegt; am Flughafen in Taschkent „sorge“ man dafür, dass die Betroffenen ein „Flugzeug nach Kabul besteigen“, wurde im Juni ein schwedischer Polizist zitiert.[1] Bei den Flugzeugen handelt es sich um Maschinen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, die in der EU nicht starten und landen darf, weil sie die hiesigen Sicherheitsstandards nicht erfüllt. Die Bundesregierung hatte Berichten zufolge im Kern bereits beschlossen, das schwedische Modell nachzuahmen.[2] Im Herbst will Bundeskanzler Olaf Scholz, wie es heißt, nach Usbekistan fliegen und dabei auch Vereinbarungen über die etwaige Rücknahme von Afghanen treffen.
Direktflug nach Kabul
Parallel wurden allerdings offenbar auch Vorbereitungen für eine Direktabschiebung nach Kabul eingeleitet – „seit gut zwei Monaten“, berichtet Der Spiegel. Beteiligt seien nicht nur die Innenbehörden gewesen, sondern auch das Kanzleramt.[3] Die erforderlichen Absprachen mit den Taliban trafen Vermittler des Emirats Qatar. Doha unterhält schon seit vielen Jahren Kontakte zu den Taliban, die bereits vor dem Abzug der westlichen Truppen vom Hindukusch Verhandlungen mit diesen ermöglichten und die zudem während des Abzugs genutzt wurden, um das Notwendigste zu koordinieren. Jetzt hat Qatar auch die Abschiebung aus Leipzig nach Kabul organisiert; der Flug selbst wurde von der Airline des Emirats, von Qatar Airways, realisiert. Der Anschlag von Solingen bot nur die Gelegenheit, die erste Direktabschiebung nach Kabul seit 2021 öffentlichkeitswirksam zu legitimieren.
Gültig für alle
Menschenrechtsorganisationen hatten bereits protestiert, als Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vom 6. Juni verlangt hatte, Personen, die „schwerste Straftaten“ begangen hätten, müssten künftig „abgeschoben“ werden, „auch wenn sie aus Syrien und Afghanistan stammen“.[4] Damals wiesen der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), die Neue Richter*innenvereinigung (NRV), die Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV), Pro Asyl und die Flüchtlingsräte der Bundesländer in einer gemeinsam veröffentlichten Stellungnahme darauf hin, dass Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta ein absolutes Folterverbot umfassen. Also dürfe niemand abgeschoben werden, „wenn nach der Abschiebung Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht“, hieß es in der Stellungnahme.[5] „Die Garantie der Menschenwürde gilt für alle Menschen, unabhängig von der Schwere der von ihnen begangenen Verbrechen“, hieß es weiter. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hatte bereits im März 2024 klar festgestellt, Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention werde „etwaigen Abschiebungen“ nach Syrien und Afghanistan „regelmäßig entgegenstehen“.[6]
„Mit unserer Werteordnung unvereinbar“
Protest wird auch jetzt geäußert. So erklärte am Freitag die Generalsekretärin von Amnesty International, Julia Duchrow, es sei „alarmierend“, dass sich die Bundesregierung offen über grundlegende Menschenrechtserklärungen „hinwegsetzt und Menschen nach Afghanistan abgeschoben hat“.[7] Damit verstoße sie „klar gegen völkerrechtliche Verpflichtungen“. Der Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland, Stefan Keßler, konstatierte: „Auch Straftäter haben Menschenrechte. Sie in ein Land abzuschieben, in denen die Machthaber selbst die grundlegendsten Menschenrechte mit Füßen treten, ist mit unserer Werteordnung nicht vereinbar.“[8] Zudem zeige „die Erfahrung ..., dass es bei einmal begonnenen Abschiebungen in ein bestimmtes Land nicht bei Straftätern bleibt“, sondern dass nach dem Einstieg in die zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen „auch unbescholtene Menschen in Gefahr sind, abgeschoben zu werden“. Keßler berichtete, der Abschiebeflug am Freitag löse „natürlich auch bei denjenigen Menschen aus Afghanistan“, die „keine Straftaten begangen haben, große Ängste aus“.
„Auch unabhängig von Straftaten abschieben“
Das hält allerdings die Bundesregierung nicht davon ab, weitere Abschiebungen und damit einen wiederholten Bruch etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention anzukündigen. Man werde „auch Straftäter nach Afghanistan wieder abschieben“, äußerte Kanzler Scholz am Freitag.[9] Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck teilte mit: „Mörder, Islamisten, Vergewaltiger, Schwerkriminelle, die unseren Schutz missbrauchen, müssen das Land verlassen.“ Zustimmung und die Forderung nach weiteren Abschiebungen kamen außerdem von den Regierungen mehrerer Bundesländer. „Flüchtlinge und Ausländer, die bei uns schwere Straftaten begehen, müssen unser Land verlassen“, erklärte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), während sein Innenminister Roman Poseck den Plan zurückwies, lediglich Straftäter abzuschieben: Künftig müssten „auch Rückführungen von ausreisepflichtigen Syrern unabhängig [!] von Straftaten möglich“ sein.[10]
Menschenrechtsabbau im Inland
Mit dem Einstieg in Abschiebungen nach Afghanistan und womöglich in Kürze auch nach Syrien nimmt der Abriss grundlegender Menschenrechte durch die Bundesregierung weiter zu. Bereits die von Berlin forcierte Abschottungspolitik an den EU-Außengrenzen umfasst seit Jahren auch völkerrechtswidrige pushbacks – zuweilen mit Todesfolge – sowie das Aussetzen von Menschen in der Wüste, von denen ebenfalls eine hohe Anzahl ums Leben kommt (german-foreign-policy.com berichtet in Kürze). Mit der Brutalisierung der Flüchtlingsabwehr geht ein Abbau von Menschen- und Bürgerrechten im Inland einher. So konstatierte Amnesty International kürzlich, immer wieder würden in der Bundesrepublik auch friedliche Demonstranten „stigmatisiert, kriminalisiert und angegriffen“; es gebe zahlreiche Fälle schwerer Polizeigewalt, und wer zivilen Ungehorsam leiste, müsse damit rechnen, als „Terrorist“ oder „ausländischer Agent“ diffamiert zu werden. Zudem lege das Vorgehen der deutschen Behörden einen „institutionalisierten Rassismus“ offen, der vor allem „auf Araber und auf Muslime zielt“.[11]
[1] Julian Staib: Abschiebungen, die eigentlich keine sind. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.06.2024. S. dazu Streit um Afghanistan.
[2] Mona Jaeger: Nur montags bis donnerstags, 9 bis 14 Uhr. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.08.2024.
[3] Matthias Gebauer, Roman Lehberger, Wolf Wiedmann-Schmidt: Deutschland schiebt afghanische Straftäter in ihr Heimatland ab. spiegel.de 30.08.2024.
[4] Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz zur aktuellen Sicherheitslage vor dem Deutschen Bundestag am 6. Juni 2024 in Berlin.
[5] Gerade jetzt: Rechtsstaat stärken! Völkerrechtswidrige Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien sind damit unvereinbar. proasyl.de, Juni 2024.
[6] Die Ausweisung von straffällig gewordenen Flüchtlingen nach Afghanistan und Syrien im Lichte des Völkerrechts. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, WD – 2 – 3000 – 009/24. Berlin, 11. März 2024.
[7] Deutschland: Abschiebung nach Afghanistan verletzt völkerrechtliche Verpflichtungen. amnesty.de 30.08.2024.
[8] Johannes Schröer: Menschenrechte in Gefahr. domradio.de 30.08.2024.
[9], [10] Bundesländer fordern weitere Abschiebungen. tagesschau.de 30.08.2024.
[11] Under protected and over restricted. The state of the right to protest in 21 European countries. Amnesty International. 09.07.2024. S. dazu „Stigmatisiert, kriminalisiert, angegriffen“.
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