„Die Ukrainer im Kampf halten“

G7-Außenminister suchen nach Optionen, eine Kriegsniederlage der Ukraine abzuwenden. Experten urteilen, Russland könne schon in Kürze ein Durchbruch durch die Front gelingen.

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Vor dem heute auf Capri beginnenden Treffen der G7-Außenminister werden in der Ukraine wie auch in westlichen Staaten offene Warnungen vor einer ukrainischen Kriegsniederlage laut. Kiew sei „in ernster Gefahr“, den Krieg im Lauf des Jahres zu verlieren, erklärte am Wochenende ein hochrangiger britischer Militär. Bereits zuvor hatten ukrainische Offiziere gewarnt, die russischen Streitkräfte könnten schon bald fähig sein, die Front „an einigen Stellen zu zerschlagen“. Ein russischer Durchmarsch in weite Teile der Ost- und sogar der Zentralukraine wird nicht mehr ausgeschlossen. Experten kritisieren, im Westen habe man sich „die Lage der Ukraine von Anfang an schöngeredet“. Ukrainische Offiziere monieren, die Wirkung westlicher Waffen werde– in traditioneller Selbstgewissheit – oft überschätzt; so hätten russische Militärs beispielsweise gelernt, wie sich Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow oder SCALP mit einer starken Trefferquote ausschalten ließen. Die G7-Außenminister suchen nun nach Optionen, einen Kollaps der ukrainischen Front zu verhindern. Außenministerin Baerbock schlägt ein womöglich weltweites „Mapping aller Patriot-Systeme“ vor.

Russland vor der Offensive

Einschätzungen, laut denen die ukrainischen Truppen ihre Stellung an der Front nicht mehr lange halten könnten und ein russischer Durchbruch mit vielleicht weitreichenden Folgen in den kommenden Wochen und Monaten gut möglich sei, werden schon seit einigen Wochen geäußert. So zitierte etwa das Springer-Onlineportal Politico Anfang April hochrangige ukrainische Offiziere mit der Äußerung, die russischen Streitkräfte würden bald in der Lage sein, „die Frontlinie zu durchdringen und sie an einigen Stellen zu zerschlagen“.[1] Am Wochenende bestätigte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Generaloberst Olexander Syrskyj, die Situation an der Front im Osten des Landes sei „in den vergangenen Tagen beträchtlich angespannter“ als zuvor; dies liege daran, dass die russischen Streitkräfte nach der Präsidentenwahl in Russland ihre Offensivhandlungen „signifikant“ ausgeweitet hätten.[2] Auch westliche Militärs beginnen sich offener zu äußern. So zitierte die BBC den ehemaligen Befehlshaber des Joint Forces Command, Richard Barrons, mit der Aussage, die Ukraine sei „in ernster Gefahr“, den Krieg im Laufe des Jahres zu verlieren.[3] Barrons schloss einen Durchbruch der russischen Streitkräfte durch die Front und anschließend ihren kaum zu stoppenden Vormarsch ins Zentrum der Ukraine nicht aus.

Angriffe auf Kraftwerke

Während seiner Vorbereitung auf die Offensive hat Russland in den vergangenen Wochen umfassende Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung durchgeführt. Dabei griffen die russischen Streitkräfte nicht mehr – wie noch im vergangenen Winter – Umspannwerke und Transformatoren an, sondern konventionelle Kraftwerke. Zuletzt wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. April das Wärmekraftwerk Trypillja komplett zerstört, das unter anderem die Region Kiew versorgte; kurz zuvor war das Wärmekraftwerk Smijiw zerstört worden, das die Region Charkiw mit Energie bediente. Mittlerweile sind laut offiziellen Angaben 80 Prozent der ukrainischen Wärmekraftwerke nicht mehr funktionsfähig; die Reparatur dürfte – anders als im Fall der beschädigten Umspannwerke und Transformatoren – Jahre dauern.[4] Über die hinter den Angriffen steckende Strategie urteilen Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zum einen handle es sich wohl um Vergeltung für die ukrainischen Angriffe auf russische Erdölraffinerien. Zum anderen gehe es darum, die Regierung in Kiew vor die Wahl zu stellen, „entweder die Rüstungsindustrie oder die Bevölkerung zu versorgen“; beides zugleich sei wohl nicht mehr möglich.[5] Ausfälle in der Rüstungsindustrie schwächten die Fähigkeit der Ukraine, sich gegen die wohl bald bevorstehende russische Offensive zu verteidigen.

„Von Anfang an schöngeredet“

Mit Blick auf die sich abzeichnende russische Offensive üben Militärs scharfe Kritik an der bisherigen westlichen Einschätzung des Ukraine-Kriegs. So urteilt zum Beispiel Markus Reisner, ein Offizier des österreichischen Bundesheeres, der an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt lehrt und mit seinen Analysen des Kriegsgeschehens in der Ukraine bekannt geworden ist: „Wir haben uns die Lage der Ukraine von Anfang an schöngeredet“.[6] So seien „die Ressourcen, die von außen in das Land geflossen sind“, von Beginn an „unzureichend für einen Abnutzungskrieg“ gewesen, „und dieser läuft etwa seit April 2022“. Auch über den Zustand der russischen Streitkräfte seien Illusionen geschürt worden. So sei viel über einen Angriff auf eine russische Kaserne berichtet worden, bei dem viele russische Soldaten zu Tode kamen; er wurde durch leichtsinnigen Umgang russischer Militärs mit Privathandys ermöglicht. Im Westen sei anschließend der Eindruck erweckt worden, Leichtsinn sei in den russischen Streitkräften „ein Trend“ – dabei sei der Fall „ein Einzelfall“ gewesen. „Wir haben ein Ereignis herausgenommen und daraus den Zustand der russischen Armee abgeleitet“, konstatiert Reisner; „so naiv“ dürfe man aber niemals sein. Fehleinschätzungen der Kampfkraft der russischen Streitkräfte waren die Folge.

Westliche Waffen überschätzt

Dies gilt laut den ukrainischen Offizieren, die das Springer-Portal Politico befragte, für die Lieferung westlicher Waffen, die auch in deutschen Medien als besonders effizient bezeichnet und auf die große Hoffnungen gesetzt wurden – etwa für Marschflugkörper der Modelle Storm Shadow und SCALP, die von Großbritannien und Frankreich exportiert wurden. Man habe sie sehr „erfolgreich“ eingesetzt, berichtet ein ukrainischer Offizier – allerdings „nur für eine kurze Zeit“.[7] Dann hätten russische Militärs ihre Wirkweise sowie Möglichkeiten für ihre Abwehr untersucht – und sie hätten Wege gefunden, sie zum größten Teil unschädlich zu machen. Reisner berichtet, mittlerweile gelinge es den russischen Streitkräften, „gut 50 Prozent der ukrainischen Flugkörper mit elektronischen Störsystemen herunter[zu]holen“; der Rest werde „dann noch einmal zur Hälfte von der Flugabwehr abgeschossen“.[8] Zwar gelinge den ukrainischen Streitkräften „hier und da ... ein spektakulärer Treffer“; doch genüge das nicht, „um den Gegner zum Einknicken zu bringen“. „Die Russen“, so zitiert Politico ukrainische Offiziere, „lernen immer. Sie geben uns keine zweite Chance.“[9] Man solle „den Hype“, dass sie gleichsam „nur Truppen in den Fleischwolf“ schickten, nicht glauben: „Das tun sie zwar auch ..., doch sie lernen und verfeinern“ ihre Kriegführung.

Ein globales Patriot-Mapping

Der Ukraine-Krieg steht auf der Tagesordnung des Treffens der G7-Außenminister, das am heutigen Mittwoch auf der italienischen Insel Capri beginnt. Um eine ukrainische Niederlage zu verhindern, soll unter anderem nach Möglichkeiten gesucht werden, der Ukraine weitere Flugabwehrsysteme zu liefern. Das deutsche Verteidigungsministerium teilte bereits am vergangenen Samstag mit, es werde eins aus den Beständen der Bundeswehr zur Verfügung stellen. Außenministerin Annalena Baerbock hat sich dafür ausgesprochen, auf dem G7-Treffen über ein europaweites oder gar globales „Mapping aller Patriot-Systeme“ zu diskutieren und die Staaten, die solche besitzen, dazu zu veranlassen, sie Kiew „schnell“ zu überlassen.[10] Zu dem Treffen werden auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sowie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erwartet. Gelinge es nicht, die ukrainische Niederlage zu verhindern, dann könne man keine vorteilhafte Friedensvereinbarung erzielen, wurde der italienische Außenminister Antonio Tajani zitiert: Es gelte, Russland „aus der Ukraine“ herauszubekommen.[11] Wie das gelingen soll, blieb unklar. Schon zuvor hatte der britische Außenminister David Cameron erklärt: „Das Beste, das wir dieses Jahr tun können, besteht darin, die Ukrainer in diesem Kampf zu halten.“[12] Der Westen spielt Va banque.

 

[1] Jamie Dettmer: Ukraine is at great risk of its front lines collapsing. politico.eu 03.04.2024.

[2] Tom Balmforth: Ukraine’s army chief says eastern front under intense Russian assault. reuters.com 13.04.2024.

[3] Frank Gardner: Ukraine could face defeat in 2024. Here’s how that might look. bbc.co.uk 14.04.2024.

[4], [5] Christian Mölling, András Rácz: Warum Russland die Energieversorgung zerstört. zdf.de 11.04.2024.

[6] Hauke Friederichs, Maxim Kireev: „Wir haben uns die Lage in der Ukraine schöngeredet“. zeit.de 15.04.2024.

[7] Jamie Dettmer: Ukraine is at great risk of its front lines collapsing. politico.eu 03.04.2024.

[8] Hauke Friederichs, Maxim Kireev: „Wir haben uns die Lage in der Ukraine schöngeredet“. zeit.de 15.04.2024.

[9] Jamie Dettmer: Ukraine is at great risk of its front lines collapsing. politico.eu 03.04.2024.

[10] Trotz knapper Bestände: Deutschland liefert weiteres Patriot-System an Ukraine. berliner-zeitung.de 13.04.2024.

[11] Crispian Balmer, Angelo Amante: Wars to dominate G7 talks as foreign ministers seek path to peace. ca.news.yahoo.com 15.04.2024.

[12] Mark Landler: Cameron, on U.S. Trip, Takes a Risk and Meets With Trump. nytimes.com 09.04.2024.


Anmelden

ex.klusiv

Den Volltext zu diesem Informationsangebot finden Sie auf unseren ex.klusiv-Seiten - für unsere Förderer kostenlos.

Auf den ex.klusiv-Seiten von german-foreign-policy.com befinden sich unser Archiv und sämtliche Texte, die älter als 14 Tage sind. Das Archiv enthält rund 5.000 Artikel sowie Hintergrundberichte, Dokumente, Rezensionen und Interviews. Wir würden uns freuen, Ihnen diese Informationen zur Verfügung stellen zu können - für 7 Euro pro Monat. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.

Möchten Sie dieses Angebot nutzen? Dann klicken Sie hier:
Persönliches Förder-Abonnement (ex.klusiv)

Umgehend teilen wir Ihnen ein persönliches Passwort mit, das Ihnen die Nutzung unserer ex.klusiven Seiten garantiert. Vergessen Sie bitte nicht, uns Ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen.

Die Redaktion

P.S. Sollten Sie ihre Recherchen auf www.german-foreign-policy.com für eine Organisation oder eine Institution nutzen wollen, finden Sie die entsprechenden Abonnement-Angebote hier:
Förder-Abonnement Institutionen/Organisationen (ex.klusiv)