„Eine Gefahr für die Demokratie”
Massive Proteste in Israel begleiten den Berlin-Besuch von Ministerpräsident Netanyahu. Zentrales Thema der Gespräche ist die Lieferung des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3.
BERLIN/TEL AVIV (Eigener Bericht) – Starker Protest in Israel begleitet den heutigen Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu in Berlin. Gegner seiner ultrarechten Regierung haben vergeblich gefordert, die Bundesregierung solle Netanyahu ausladen: Seine sogenannte Justizreform schaffe die Kontrolle der Regierungspolitik durch das Oberste Gericht ab, heißt es in einem Protestschreiben von rund 1.000 Intellektuellen; Israel befinde sich unter Netanyahu „auf dem Weg ... zu einer theokratischen Diktatur“. Gegen die Justizreform gehen in Israel seit Monaten Hunderttausende auf die Straße. Die Bundesregierung hält an den heutigen Gesprächen fest. Darin geht es zum einen um die Lieferung des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3, dessen Erwerb in Deutschland als Alternative zum Kauf des US-Systems THAAD und damit zu einer noch stärkeren Abhängigkeit von der US-Rüstungsindustrie gilt. Darüber hinaus steht auch ein Austausch über die Iran-Politik auf dem Programm. Tel Aviv ist jüngst von der Sabotage iranischer Atomanlagen zu Angriffen auf iranische Rüstungsanlagen übergegangen und hofft auf ein gemeinsames Vorgehen mit dem Westen, weil Iran Russland mit Waffen beliefert.
Gegen Iran
Gegenstand der Gespräche, zu denen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gestern abend in Berlin eingetroffen ist, ist zum einen die Politik gegenüber Iran. Teheran hat auf den Bruch des Atomabkommens durch die USA reagiert, indem es die Urananreicherung weiter vorangetrieben hat. Israel wiederum hat mit Cyberattacken auf iranische Nuklearanlagen und mit Anschlägen auf Irans Atomwissenschaftler geantwortet. Jüngst ist es dazu übergegangen, nichtnukleare Militär- und Rüstungsanlagen in Iran anzugreifen. Das soll helfen, die Länder Europas und die Vereinigten Staaten für gemeinsame Aggressionen gegen Teheran zu gewinnen: Iran unterstützt Russland in dessen Krieg gegen die Ukraine mit der Lieferung von Drohnen, was wiederum die westlichen Staaten motiviert, sich noch stärker als zuvor gegen Teheran zu positionieren. Umfassende israelische Luftangriffe auf Ziele in Iran werden schon seit geraumer Zeit nicht ausgeschlossen.[1] Nur schwer abzuschätzen ist, wie sich die jüngste iranisch-saudische Einigung zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen auswirken wird, die vergangene Woche unter Vermittlung Chinas zustande kam und Hoffnung auf eine gewisse Entspannung im Mittleren Osten weckt. Israel, das Teheran zu isolieren versucht, lehnt die Einigung ab.
Arrow 3
Einen weiteren Schwerpunkt der Gespräche mit Netanyahu bilden die Pläne Berlins, zum Ausbau der deutschen bzw. der europäischen Flugabwehr das israelische System Arrow 3 zu beschaffen. Dies soll im Zusammenhang mit der European Sky Shield Initiative (ESSI) geschehen, deren Gründung 15 Staaten Europas auf deutsche Initiative am 13. Oktober 2022 beschlossen haben (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Dabei wird Arrow 3 die Aufgabe zugedacht, Raketen in großer Höhe bzw. in großer Entfernung abzuwehren. Das israelische System gilt als Alternative zum US-amerikanischen THAAD; es würde eine noch größere Abhängigkeit von der US-Rüstungsindustrie vermeiden, von der bereits das Patriot-System mit Reichweiten bis zu 100 Kilometern beschafft werden soll. Zudem unterhalten deutsche Rüstungskonzerne intensive Beziehungen zum israelischen Arrow 3-Hersteller IAI (Israel Aerospace Industries). So kooperiert IAI etwa bei der Produktion kleiner Drohnen oder beim Bau von Abwehrsystemen für Schiffe eng mit Rheinmetall. Darüber hinaus ist der Konzern an der Entwicklung eines neuen Radarsystems für die Bundeswehr unter Führung von Hensoldt entwickelt, dem inzwischen viertgrößten deutschen Rüstungsunternehmen. Nicht zuletzt nutzt die Bundeswehr bereits seit Jahren die Heron-Drohnen, die IAI produziert.[3]
Nur mit Zustimmung aus den USA
Schwierigkeiten mit Arrow 3 ergeben sich nun allerdings auf politischer Ebene. Ursache ist, dass die Entwicklung des israelischen Raketenabwehrsystems unter anderem mit US-Geldern finanziert wurde und die Vereinigten Staaten deshalb seinem Export zustimmen müssen. Im Frühjahr vergangenen Jahres hatte es geheißen, nicht nur Tel Aviv, sondern auch Washington habe für den Verkauf im Grundsatz grünes Licht gegeben.[4] Im September wurden die Verhandlungen bei einem Besuch des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jair Lapid in Berlin weitergeführt. Heute steht Arrow 3 erneut auf der Tagesordnung. Zwar heißt es, das Geschäft sei im Wesentlichen unter Dach und Fach. Allerdings bremst Washington offenbar seit geraumer Zeit. Laut israelischen Berichten legen die USA Wert darauf, dass Arrow 3 lediglich an Deutschland, nicht an weitere Staaten verkauft wird. Zuletzt soll der Deal Thema im Gespräch von Kanzler Olaf Scholz mit US-Präsident Joe Biden am 3. März im Weißen Haus gewesen sein.[5] Scholz und Netanyahu könnten das Geschäft an diesem Donnerstag zu einem vorläufigen Abschluss bringen, wird berichtet; dann stehe nur die finale Zustimmung aus Washington aus. Aktuell werden allerdings Spekulationen laut, die USA könnten neue Einwände erheben – aufgrund der politischen Entwicklung in Israel.
„Auf dem Weg zur theokratischen Diktatur“
In Israel eskaliert seit geraumer Zeit der Konflikt um die sogenannte Justizreform. Netanyahu will unter anderem durchsetzen, dass das Parlament per einfacher Mehrheit Grundgesetze von Verfassungsrang ändern und Einsprüche des Obersten Gerichtshofs gleichfalls per einfacher Mehrheit zurückweisen kann. Das würde in Zukunft Parlamentsentscheidungen justizieller Kontrolle entziehen und politischer Willkür Tür und Tor öffnen. Die Knesset hat mittlerweile begonnen, die Maßnahmen zu verabschieden. Seit Monaten protestieren Hunderttausende in ganz Israel dagegen. Präsident Isaac Herzog hat sich erst kürzlich offen gegen die sogenannte Reform positioniert. Die Pläne seien „eine Gefahr für die Grundfesten unserer Demokratie“, warnte Herzog Ende vergangener Woche in einer Fernsehansprache.[6] In ihrem Versuch, die Maßnahmen abzuwenden, wendet sich die israelische Opposition inzwischen an Verbündete im Ausland. So forderten am Dienstag rund tausend Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler in einem Brief an den deutschen Botschafter in Tel Aviv, Berlin dürfe Netanyahu nicht empfangen. Sie warnten, Israel befinde sich aktuell „auf dem Weg von einer lebendigen Demokratie zu einer theokratischen Diktatur“.[7] Auch in Washington bemüht sich Israels Opposition um Unterstützung. Die USA könnten, so heißt es, ihre Zustimmung zum Arrow 3-Geschäft als Druckmittel nutzen.[8]
Extrem rechte Minister
Netanyahus Regierung wird auch unabhängig von der Justizreform international scharf kritisiert, da in ihr Politiker der extremen Rechten tragende Positionen einnehmen. Kürzlich sorgte Finanzminister Bezalel Smotrich von der Partei HaTzionut HaDalit (Der Religiöse Zionismus) für einen Eklat, als er nach einem Pogrom von Siedlern an Palästinensern in der Kleinstadt Huwara erklärte: „Ich denke, das Dorf Huwara muss ausradiert werden.“[9] Der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir von der Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke), wurde vor Jahren wegen rassistischer Hetze verurteilt und ist dafür bekannt, dass er in seinem Wohnzimmer ein Foto von Baruch Goldstein aufgehängt hatte; Goldstein erschoss im Jahr 1994 in Hebron 29 Palästinenser bei ihrem Morgengebet.[10] Beobachter weisen zudem darauf hin, dass auch Netanyahus rechte Likud-Partei „eine Radikalisierung erfahren“ hat. „Alle Politiker sprechen sich mittlerweile zumindest für Teilannexionen des Westjordanlandes aus“, konstatiert der Nahost-Experte Peter Lintl von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Der aktuelle Kulturminister Miki Zohar hat sogar vorgeschlagen, das ganze Westjordanland zu annektieren, aber den Palästinensern keine politischen Rechte zu geben.“[11]
[1] Muriel Asseburg, Hamidreza Azizi: Warum ein israelischer Angriff wahrscheinlicher wird. tagesspiegel.de 18.02.2023.
[2] S. dazu Auf Kosten Frankreichs.
[3] S. dazu Festtage für die Rüstungsindustrie (III).
[4] Anna Ahronheim: Germany gets approval for Israel’s Arrow 3 missile defense system. jpost.com 06.04.2023.
[5] Jonathan Lis: Netanyahu Knows He Will Face Public Criticism in Berlin, So Why Is He Going? haaretz.com 14.03.2023.
[6] Israels Präsident Herzog lehnt Justizreform ab. tagesschau.de 10.03.2023.
[7] Protest gegen Justizreform. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.03.2023.
[8] Ben Caspit: Former IDF commanders in Washington to appeal to Biden on Israel’s judicial overhaul. al-monitor.com 14.03.2023.
[9] USA verurteilen Forderung nach „Ausradierung“ eines Dorfs. tagesschau.de 02.03.2023.
[10] Oliver Holmes: ‘Racist and reprehensible’: Jewish Power set to enter Israel’s parliament. theguardian.com 24.03.2021.
[11] Philipp Fritz: Israel: Kabinett Netanjahu IV liebäugelt mit Vertreibung. furche.at 08.03.2023.

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