Der Notstandsparagraph der EU

Die Anwendung eines Notstandsparagraphen zum dauerhaften Einfrieren des russischen Staatsvermögens in der EU steigert die Spannungen mit kleineren EU-Staaten. Washington will einige von diesen von der EU „wegziehen“.

MOSKAU/BERLIN (Eigener Bericht) – Wachsende Spannungen wegen der Pläne Berlins und Brüssels zur De-facto-Enteignung des in der EU liegenden russischen Staatsvermögens begleiten die aktuellen Ukraine-Verhandlungen in Berlin. Während sich erste Zugeständnisse der Ukraine im Hinblick auf die NATO-Mitgliedschaft des Landes abzeichnen, hat die EU unter Rückgriff auf einen Notstandsartikel Russlands Staatsvermögen auf Dauer eingefroren. Das soll nun die Nutzung der Guthaben für einen Kredit für die Ukraine ermöglichen. Der Schritt, der beträchtliche Gefahren für die Finanzlage der EU mit sich bringt, verschärft die Spannungen mit kleineren Mitgliedstaaten, die sich durch den Notstandsartikel unrechtmäßig entmachtet sehen. Gleichzeitig schlägt der einflussreiche deutsche Ex-Spitzendiplomat Wolfgang Ischinger vor, ein aus ausgewählten Staaten bestehendes „Kerneuropa“ solle die EU-Außenpolitik im Alleingang vorantreiben. Ausgegrenzt würden Staaten wie etwa Ungarn, Italien und Polen, von denen es in einer inoffiziellen Langfassung der neuen Nationalen US-Sicherheitsstrategie heißt, Washington werde sie künftig von der EU „wegziehen“ und auf diese Weise den Zusammenhalt und den Einfluss der Union untergraben.

Auf Dauer eingefroren

Rechtliche Grundlage für den Beschluss, das in EU-Mitgliedstaaten liegende Vermögen der russischen Zentralbank – insgesamt 210 Milliarden Euro – nicht mehr zeitlich beschränkt, sondern dauerhaft einzufrieren, ist der eigentlich für Notfälle konzipierte Artikel 122, Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. Er gestattet es der EU-Kommission in Notlagen, „der Wirtschaftslage angemessene“ Maßnahmen zu ergreifen, vor allem, wenn „gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren … auftreten“.[1] Der Paragraph wurde etwa im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie angewandt. Die Kommission behauptet jetzt, der Ukraine-Krieg habe etwa zu höheren Erdgaspreisen, zu höheren Preisen allgemein und zu hohen Kosten für die Aufrüstung der Ukraine geführt, weshalb nun eine akute Notlage eingetreten sei und der Notstandsartikel 122 Anwendung finden könne. Dieser erleichtert es nicht zuletzt, Beschlüsse zu fassen, denn dafür ist nur noch eine qualifizierte Mehrheit nötig. Ende vergangener Woche haben dem dauerhaften Einfrieren des russischen Vermögens 25 der 27 EU-Mitgliedstaaten zugestimmt; nur Ungarn und die Slowakei sprachen sich dagegen aus. Auf den Beschluss aufbauend soll noch diese Woche entschieden werden, das eingefrorene russische Vermögen für einen Kredit für Kiew zu nutzen.[2]

Risiken …

Der Beschluss droht in doppelter Hinsicht gravierende Folgen mit sich zu bringen. Schlüge die EU tatsächlich große Teile des russischen Staatsvermögens der Ukraine zu – wenngleich offiziell nur in Form eines Kredits –, dann bräche sie damit internationales Recht. Das hat in der vergangenen Woche exemplarisch die Chefin des belgischen Finanzdienstleisters Euroclear bestätigt, bei dem russische Guthaben im Wert von 185 Milliarden Euro liegen (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Russland könnte seinerseits dazu übergehen, auf russischem Territorium vorhandene Guthaben aus EU-Staaten zu beschlagnahmen. Darüber hinaus ist die Maßnahme geeignet, Investoren aus anderen Ländern zu veranlassen, etwaiges Vermögen aus der EU abzuziehen, um nicht ihrerseits im Fall eines Konflikts mit der EU die Beschlagnahmung ihrer Vermögen befürchten zu müssen. Zuletzt wurden sogar Warnungen vor einer erneuten Finanzkrise in der EU laut. Ende vergangener Woche hat Russland in einem ersten Schritt Klage gegen Euroclear vor einem Moskauer Schiedsgericht eingereicht; es verlangt nicht nur sein Vermögen zurück, sondern auch finanziellen Ersatz für den durch das Einfrieren entgangenen Gewinn.[4] Das Verfahren gilt dabei nur als erster Schritt der russischen Behörden; mit weiteren Maßnahmen wird gerechnet.

… und Nebenwirkungen

Hinzu kommen schon jetzt einschneidende Folgen für die EU. Der Notstandsartikel 122 ist im Rahmen des Vorgehens gegen das russische Staatsvermögen zum ersten Mal auf dem Feld von Sanktionen angewandt worden. Sanktionen konnten bislang aufgrund ihrer womöglich umfassenden Konsequenzen auch für die EU-Mitglieder selbst lediglich einstimmig verhängt werden. Dies ist nun vorbei: Mit dem Beschluss zum dauerhaften Einfrieren des russischen Staatsvermögens hat die EU vergangene Woche einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, auf den sie in Zukunft stets zurückgreifen können wird, sollte ein Staat in einem konkreten Fall Sanktionen ablehnen. Das Vetorecht ist damit in einem äußerst sensiblen Bereich der Außenpolitik ausgehebelt worden. Insider berichten, aus diesem Grunde hätten sich „mehrere Staaten“ nur mit „Bauchschmerzen“ zur Zustimmung zu einer Anwendung des Artikels 122 durchgerungen.[5] Unmittelbarer Protest kam vor allem aus Ungarn. Die Anwendung des Notstandsartikels sei „offensichtlich rechtswidrig“, erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán, der vorhersagte, sie werde der EU „irreparablen Schaden zufügen“.[6] In der Praxis öffnet sie den großen EU-Staaten eine Option, ihr Interesse gegen Widerstände kleiner Mitgliedstaaten durchzusetzen. Damit sind freilich auch neue, potenziell eskalierende Konflikte innerhalb der EU vorprogrammiert.

Kerneuropa

Dies trifft auch auf einen Vorstoß zu, den am Wochenende der einstige Spitzendiplomat und langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitspolitik, Wolfgang Ischinger, machte. Wie es in einem Artikel heißt, den Ischinger am Samstag gemeinsam mit der früheren französischen Verteidigungsministerin Sylvie Goulard publizierte, sei es „überfällig“, die EU rasch „von der Lethargie des Einstimmigkeitsprinzips zu befreien“.[7] Dazu biete „die ‚Kerneuropa‘-Idee“, die vor mehr als drei Jahrzehnten die CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers vorgelegt hätten, „eine Lösung“. Schäuble und Lamers hatten 1994 in einem Strategiepapier auf die Osterweiterung der EU gedrungen, gegen die es Widerstände gab, weil von ihr die Stärkung der deutschen Dominanz in der EU erwartet wurde.[8] Darüber hinaus hatten sie für die Schaffung eines „Kerneuropas“ aus Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg plädiert, das unabhängig vom Rest der EU die Kooperation auf ausgewählten Politikfeldern energisch vorantreiben solle. Weitere Länder, darunter das EU-Gründungsmitglied Italien, seien später unter Umständen „einzubeziehen“, meinten Schäuble und Lamers. Der Vorstoß, der eine offene Unterordnung der EU unter Deutschland und das ökonomisch schwächere Frankreich durchgesetzt hätte, scheiterte damals noch.

Europa spalten

Die Vorstöße, bei der Durchsetzung von EU-Sanktionen widerstrebende EU-Mitglieder per Notstandsartikel zu entmachten und die Außenpolitik der EU unter Umständen gänzlich einer „Kerneuropa“-Neuauflage zu übertragen – etwa den in der Ukraine-Politik vorpreschenden E3 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) –, lassen nicht nur zunehmende Widerstände kleinerer EU-Staaten erwarten. Am Samstag etwa teilte Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babiš mit, sein Land unterstütze das Vorhaben nicht, russisches Staatsvermögen auf die eine oder andere Weise Kiew zur Verfügung zu stellen, und es werde die Finanzierung der Ukraine auch anderweitig nicht mittragen.[9] Sie bieten zudem der Trump-Administration Optionen, ihre Pläne zur Schwächung der EU voranzutreiben. Laut Berichten kursiert in Washington eine Langfassung der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie, in der vier EU-Staaten genannt werden, von denen es heißt, man solle sie von der EU „wegziehen“. Bei den vier Ländern, die alle über starke ultrarechte Parteien verfügen, handelt es sich um Ungarn, Italien, Österreich und Polen.[10] Ungarn befindet sich schon jetzt in heftigen Konflikten mit Brüssel, nicht zuletzt im Hinblick auf die Ukraine; Italien wäre an einem deutsch-französischen Kerneuropa wohl nicht beteiligt. Dies erhöht die Chancen für die Pläne der Trump-Administration, sie vom Kern der EU zu entfernen.

 

[1] Thomas Gutschker: Russische Vermögen sollen auf Dauer gesperrt bleiben. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.12.2025.

[2], [3] S. dazu Berlin spielt va banque.

[4] Nach EU-Einigung zu russischem Vermögen: Russlands Zentralbank verklagt belgischen Euroclear-Konzern. tagesspiegel.de 12.12.2025.

[5] Thomas Gutschker: Russische Vermögen sollen auf Dauer gesperrt bleiben. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.12.2025.

[6] Thomas Moller-Nielsen: Orbán wirft EU systematische Missachtung des europäischen Rechts vor. euactiv.de 12.12.2025.

[7] Sylvie Goulard, Wolfgang Ischinger: Wie sich Europa gegen Trump und Putin behaupten kann. faz.net 13.12.2025.

[8] In dem Papier drohten Schäuble und Lamers, ohne eine Osterweiterung der EU könne Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise [!] zu bewerkstelligen. Wolfgang Schäuble, Karl Lamers: Überlegungen zur europäischen Politik. 01.09.1994.

[9] Babis will der Ukraine kein Geld geben. spiegel.de 13.12.2025.

[10] Meghann Myers: ‚Make Europe Great Again’ and more from a longer version of the National Security Strategy. defenseone.com 10.12.2025.


Anmelden

ex.klusiv

Den Volltext zu diesem Informationsangebot finden Sie auf unseren ex.klusiv-Seiten - für unsere Förderer kostenlos.

Auf den ex.klusiv-Seiten von german-foreign-policy.com befinden sich unser Archiv und sämtliche Texte, die älter als 14 Tage sind. Das Archiv enthält rund 5.000 Artikel sowie Hintergrundberichte, Dokumente, Rezensionen und Interviews. Wir würden uns freuen, Ihnen diese Informationen zur Verfügung stellen zu können - für 7 Euro pro Monat. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.

Möchten Sie dieses Angebot nutzen? Dann klicken Sie hier:
Persönliches Förder-Abonnement (ex.klusiv)

Umgehend teilen wir Ihnen ein persönliches Passwort mit, das Ihnen die Nutzung unserer ex.klusiven Seiten garantiert. Vergessen Sie bitte nicht, uns Ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen.

Die Redaktion

P.S. Sollten Sie ihre Recherchen auf www.german-foreign-policy.com für eine Organisation oder eine Institution nutzen wollen, finden Sie die entsprechenden Abonnement-Angebote hier:
Förder-Abonnement Institutionen/Organisationen (ex.klusiv)