„Phase zwei der Zeitenwende“
NATO legt Fünf-Prozent-Ziel fest. Bundesregierung will deutschen Militärhaushalt von 52 Milliarden Euro (2024) auf 153 Milliarden Euro (2029) verdreifachen. Außenpolitikexperte behauptet: „Wir sind im Krieg mit Russland.“
DEN HAAG/BERLIN (Eigener Bericht) – Die NATO wird sich bei der Aufrüstung weltweit an die Spitze setzen und ihre globale Führungsstellung in puncto Militarisierung noch weiter ausbauen. Dies ist eine zentrale Folge des Beschlusses des NATO-Gipfels am gestrigen Mittwoch in Den Haag, die Militärausgaben der Mitgliedstaaten ab 2035 verpflichtend auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) festzulegen – 3,5 Prozent für den direkten, 1,5 Prozent für den indirekten militärischen Bedarf, insbesondere Infrastruktur. Bereits heute entfallen 55 Prozent aller Militärausgaben weltweit auf die NATO. Nur recht wenige Staaten geben mehr als 3,5 Prozent für ihre Streitkräfte aus, darunter etwa Israel (8,8 Prozent) und Saudi-Arabien (7,3 Prozent). Die Bundesregierung will den Militärhaushalt von rund 52 Milliarden Euro im Jahr 2024 auf fast 153 Milliarden Euro im Jahr 2029 verdreifachen. Dies geht mit einer Neuverschuldung her, die 2029 mehr als vier Prozent des BIP erreichen dürfte. Zur Begründung erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz am Mittwoch, Russland bedrohe „den gesamten Frieden“ in Europa. Ein Außenpolitikexperte behauptet: „Wir sind schon im Krieg mit Russland“ – in einem „hybriden Krieg“.
Fast Rüstungsweltmeister
Mit ihrem Beschluss, in Zukunft Mittel in Höhe von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für militärische Belange auszugeben – Gelder in Höhe von 3,5 Prozent unmittelbar für die Streitkräfte –, setzt sich die NATO in Sachen Militarisierung weltweit an die Spitze. Laut Angaben des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI gibt es unter den 40 Ländern mit den höchsten Militärausgaben in absoluten Zahlen nur sehr wenige Staaten, die einen höheren Anteil an ihrer Wirtschaftsleistung in ihr Militär stecken. Außer Russland (7,1 Prozent) und der Ukraine (34 Prozent), die kriegsbedingt drastisch erhöhte Militärausgaben tätigen, lagen laut SIPRI im Jahr 2024 nur Israel (8,8 Prozent), Algerien (8 Prozent), Saudi-Arabien (7,3 Prozent) und Kuwait (4,8 Prozent) oberhalb eines BIP-Anteils von 3,5 Prozent. Alle anderen von SIPRI analysierten Nicht-NATO-Staaten gaben meist deutlich weniger als 3,5 Prozent ihres BIP für ihre Streitkräfte aus. Der weltweite Durchschnitt lag laut SIPRI bei 2,5 Prozent. China, das im Westen gern wegen vermeintlich exzessiver Militärausgaben angeprangert wird, wandte im Jahr 2024 Mittel in Höhe von 1,7 Prozent seines BIP (SIPRI-Schätzung) für seine Armee auf. Im vergangenen Jahr standen die NATO-Staaten mit rund 1,5 Billionen US-Dollar für 55 Prozent aller globalen Militärausgaben.[1] Ihr Anteil wird weiter wachsen.
Ein Drittel des Bundeshaushalts
Die Bundesregierung will nach ihren jüngsten Plänen den Anteil des Wehretats am BIP so schnell steigern wie kaum ein anderes Land – erheblich schneller als zunächst geplant. Hatte es zunächst geheißen, Berlin wolle seine Militärausgaben einschließlich aller Aufwendungen jenseits des regulären Bundeswehrhaushalts („Sondervermögen“) von 2,1 Prozent im Jahr 2025 in jährlichen Sprüngen von 0,2 Prozentpunkten auf 3,5 Prozent im Jahr 2032 steigern [2], so soll der 3,5-Prozent-Anteil laut Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) nun schon im Jahr 2029 erreicht werden. Hatte das deutsche Wehrbudget im vergangenen Jahr ein Volumen von knapp 52 Milliarden Euro, so soll es dieses Jahr 62,4 Milliarden Euro erreichen und dann innerhalb von nur vier Jahren auf 152,8 Milliarden Euro in die Höhe schnellen.[3] Der Betrag entspricht einem knappen Drittel des Bundeshaushalts 2024. Hinzu kämen gut 70 Milliarden Euro für militärisch benötigte Infrastruktur sowie weiteren militärischen Bedarf, darunter etwa Munitions- und Treibstofflager, Bunker oder die Spionageabwehr.[4] Bereits in diesem Jahr will die Bundesregierung, um die Aufrüstung und einige weitere Investitionen zu finanzieren, Neuschulden in Höhe von 143,1 Milliarden Euro aufnehmen – fast 3,3 Prozent des BIP.[5] 2029 könnte die Neuverschuldung einen Wert von über 4 Prozent des BIP erreichen.
„Mit Russland im Krieg“
Zur Begründung für die beispiellose Aufrüstung heißt es seit geraumer Zeit, Russland könne schon in wenigen Jahren in der Lage und womöglich auch bereit sein, europäische NATO-Staaten anzugreifen. „Putins Kriegswirtschaft arbeitet auf einen weiteren Konflikt zu“, behauptete Verteidigungsminister Boris Pistorius bereits im Juni 2024 und verlangte: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“[6] Seine Forderung wird seither regelmäßig wiederholt und von Berliner Militärs und Geheimdienstlern bestätigt. Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte am Dienstag vor dem Bundestag, Russland bedrohe „die Sicherheit und die Freiheit des gesamten euroatlantischen Raums aktiv und aggressiv“: Man müsse „befürchten ..., dass Russland den Krieg über die Ukraine hinaus fortsetzen wird“.[7] Am gestrigen Mittwoch äußerte er am Rande des NATO-Gipfels in Den Haag, Moskau bedrohe „den gesamten Frieden, die gesamte politische Ordnung unseres Kontinents“.[8] Experten gehen zuweilen noch weiter. „Wir müssen uns über eins klar sein: Wir sind schon im Krieg mit Russland“, behauptete am Dienstag Stephan Bierling, Professor für Internationale Politik an der Universität Regensburg.[9] Bierling relativierte zwar, es gehe um einen „hybride[n] Krieg“, fuhr aber fort, es handle sich um „die erste Stufe eines unerklärten Krieges, den Putin gegen uns im Westen und damit auch gegen die NATO führt.“
„Keine Großmacht mehr“
Die Behauptung, die europäischen NATO-Staaten drohten von Russland angegriffen zu werden, konstrastiert eigentümlich mit Äußerungen diverser führender Politiker, die jenseits einer großen Medienöffentlichkeit getätigt werden – in Kontexten abseits des Werbens für eine drastische Aufrüstung. So äußerte etwa Finnlands Präsident Alexander Stubb Mitte Mai auf einer außenpolitischen Fachkonferenz in Estlands Hauptstadt Tallinn, er habe kürzlich im Gespräch mit US-Präsident Donald Trump darauf hingewiesen, dass Russland „keine Großmacht“ mehr sei, jedenfalls „nicht ökonomisch“; seine Wirtschaftsleistung sei geringer als diejenige Italiens „und nur wenig größer“ als diejenige Spaniens.[10] Militärisch komme es in der Ukraine nur sehr langsam voran; es könne nicht mehr „als Großmacht angesehen werden“. Polens Außenminister Radosław Sikorski konstatierte auf derselben Konferenz, rüste die NATO wie geplant auf, dann gäben allein die NATO-Staaten Europas „im Friedensmodus zweieinhalb Mal mehr“ für ihr Militär aus „als Russland im Kriegsmodus“. Selbst Außenminister Johann Wadephul räumte kürzlich ein, Russlands „Kriegsmaschinerie“ dürfe man nicht überschätzen: „Immerhin versucht sie seit drei Jahren, ein Ziel zu erreichen, welches Putin innerhalb nur weniger Tage erreichen wollte“.[11] Sie komme immer noch kaum voran.
„Bereit zu führen“
Unabhängig davon ermöglicht es die beispiellose Aufrüstung der NATO, Russland in ein Wettrüsten zu zwingen, das es aufgrund seiner deutlich geringeren ökonomischen Ressourcen nicht gewinnen kann. Zugleich eröffnet sie Deutschland die Chance, die Bundeswehr „zur stärksten konventionellen Armee Europas“ zu machen, wie es Bundeskanzler Friedrich Merz am Dienstag zum wiederholten Mal bekräftigte.[12] Denn während die Bundesregierung dank des erheblich niedrigeren deutschen Schuldenstandes im großen Stil Kredite aufnehmen kann, um umfassend hochzurüsten, ist dies Frankreich, Italien und Großbritannien – den unmittelbarsten militärischen Konkurrenten der Bundesrepublik in Europa – wegen ihrer viel höheren Schulden nicht möglich. Man werde „sehr hart“ daran arbeiten, „dass Deutschland zu seiner Stärke zurückfindet“, kündigte Merz am Dienstag an. Außenminister Wadephul hatte kurz zuvor mit Blick auf das Fünf-Prozent-Ziel der NATO erklärt: „Deutschland muss ein Vorbild sein, wir müssen bereit sein zu führen.“ Man werde künftig „noch viel mehr über unsere Sicherheit reden“.[13] „Ein großes Invetitionsprogramm in unsere Verteidigung“ sei ebenso unverzichtbar wie „mehr Personal in der Bundeswehr“ oder „eine deutliche Stärkung des Zivilschutzes“. Wadephul kündigte an: „Jetzt beginnt Phase zwei der Zeitenwende.“
[1] Trends in World Military Expenditure, 2024. SIPRI Fact Sheet. Solna, April 2025.
[2] S. dazu Das größte Aufrüstungsprogramm.
[3] Klingbeil plant 143 Milliarden neue Schulden. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.06.2025.
[4] Klingbeil will NATO-Ziel schon 2029 erreichen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.06.2025.
[5] Manfred Schäfers: 143 Milliarden Euro neue Schulden. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.06.2025.
[6] Rede des Bundesministers der Verteidigung, Boris Pistorius, eingangs der Befragung der Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag am 5. Juni 2024 in Berlin.
[7] Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz zum Nato-Gipfel am 24. und 25. Juni in Den Haag und zum Europäischen Rat am 26. und 27. Juni 2025 in Brüssel vor dem Deutschen Bundestag am 24. Juni 2025 in Berlin.
[8] Merz sieht „gesamte politische Ordnung“ Europas durch Russland bedroht. zeit.de 25.06.2025.
[9] „Die Nato ist schon im Krieg mit Russland“. t-online.de 24.06.2025.
[10] Patrick Wintour: Donald Trump is losing patience with Russia, says Finnish leader. theguardian.com 18.05.2025. S. auch Verhandlungen in Istanbul.
[11] „Das war von Anfang an klar“, sagt Wadephul zur Frage, wie der Krieg enden werde. welt.de 30.05.2025.
[12] Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz zum Nato-Gipfel am 24. und 25. Juni in Den Haag und zum Europäischen Rat am 26. und 27. Juni 2025 in Brüssel vor dem Deutschen Bundestag am 24. Juni 2025 in Berlin.
[13] Christoph Schult, Severin Weiland: „Jetzt beginnt Phase zwei der Zeitenwende“. spiegel.de 20.06.2025.

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