Wählen gehen?
Was soll man wählen, im Schatten des Adlers, um dem Europa-Parlament einen neuen demokratischen Auftrag zu erteilen? Bei den ersten EU-Wahlen votierten noch rund 61 Prozent der EU-Bürger. Bei der Wahl 2014 waren es fast 20 Prozent weniger: eine steigende Verweigerung, dieses Parlament überhaupt zu legitimieren.
Den frühen Unterstützern des Europa-Gedankens würde diese Entwicklung sicherlich weh tun. Zum Beispiel dem jungen Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann, der später sagte: "Ich war gegen den Nationalismus - wie hätte ich nicht für Paneuropa sein sollen...?" Die Europa-Idee "fand zunächst viel Anklang bei der intellektuellen Jugend", erinnerte sich Klaus Mann an die 1920er Jahre.
Grenzübergreifend und international – das entsprach auch den prominenten Förderern, die viel Geld in die Europa-Idee steckten...ohne dass Klaus Mann das damals wusste: 60 Tausend Goldmark kamen als Anschubfinanzierung aus dem deutschen Bankenwesen, aus der exportorientierten Chemieindustrie, von der Robert Bosch AG oder dem Reichsverband der deutschen Industrie. Wörtlich hieß es im ersten Europa-Manifest, der Kontinent müsse sich zusammenschließen - gegen die "außereuropäischen Wirtschaftsimperien Amerikas (...) Rußlands und Ostasiens".
Für diesen Kampf gegen die "außereuropäischern Wirtschaftsimperien" in Rußland und Ostasien machte sich auch Rudolf Hilferding stark, ein ideeller Gründervater der heutigen EU. Ob er allerdings zu den EU-Wahlen gehen würde, lässt sich bezweifeln.
Zwar war Hilferding Finanzminister in zwei deutschen Regierungen und nationalem Denken abhold. Paneuropa, sagte er, würde den Frieden sichern: durch kontinentale Wirtschaftsverflechtung. Hilferding rief eine neue Ära aus: die Ära des "kapitalistischen Pazifismus" im weltoffenen Europa würde Frieden und Wohlstand bringen.
Aber sowohl Rudolf Hilferding, der sozialdemokratische Minister, wie auch Klaus Mann, der Schriftsteller, haben für den "kapitalistischen Pazifismus" der Europa-Idee einen hohen Preis entrichten müssen – und nicht nur sie.
Zuerst entfesselte der "kapitalistische Pazifismus" in der Finanzkrise einen Krieg gegen die Masse der kleinen Leute, einen Wirtschaftskrieg. Vor den Sparkassen und Banken zitterten sie um ihre Ersparnisse...um ihr arbeitsames Leben.
Weil die europäische Einigung den Konkurrenzkampf verschärfte, statt ihn zu mildern, griffen die Förderer der Europa-Idee bald zu anderen Mitteln. Der ökonomische Krieg wurde zum Krieg der nackten Gewalt.
Für "Europa" zahlte die deutsche Chemieindustrie jetzt 400 Tausend Reichsmark – aber an den Gewaltapparat der politischen Gosse, die Berlin zur europäischen Hauptstadt machen wollte. Und Bosch, der Europa-Mäzen, fand Adolf Hitler gar nicht mehr so schlecht. Der "kapitalistische Pazifismus" von Rudolf Hilferding wechselte die Farben und vertrieb seine Erfinder.
Hilferding, der frühere deutsche Finanzminister, musste nach Frankreich fliehen. Dort holten ihn die bewaffneten Repräsentanten der europabegeisterten deutschen Chemie-Industrie und der Robert Bosch AG ein: deutsche Militärbesatzer. "Europa" wurde zum Deckbegriff für Großdeutschland.
Hilferding starb in einem Gestapo-Verlies im besetzten Paris. Seine erste Frau blieb in Treblinka, auch ihr Sohn Karl kehrte nicht zurück....Klaus Mann wurde ausgebürgert und ging später in die USA.
Illusionen über die Europa-Idee? Vorbei...Als US-Soldat rückte er in das zerstörte Nachkriegs-Deutschland ein, wo Profiteure des deutschen Faschismus die Europa-Idee neu aufwärmten. Als der deutsche Karls-Preis in Aachen aus der Taufe gehoben wurde, endete sein Leben. Das deutsche "Europa" entstand in der Bundesrepublik von Neuem.
Wie würden Klaus Mann, Hilferding, seine erste Frau und ihr Sohn Karl bei dieser Europa-Wahl votieren? Was würden sie über den "Großraum" Europa heute sagen, über die Krisen und den neuen Wirtschaftskrieg gegen die kleinen Leute? Über den neuen Kampf gegen die "außereuropäischen Wirtschaftsimperien Amerikas (...), Rußlands und Ostasiens" (gegen Moskau und Beijing)? Was würden sie über die Kriege sagen, die dieses Europa weltweit führt und über den europäischen Massenfriedhof im Mittelmeer?
Würden sie dieses Europa legitimieren wollen und wählen gehen?
Wir wissen es nicht, aber wir können es vermuten...
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Go Vote?
What should we vote for, in the shadow of the eagle, to give the European Parliament a new democratic mandate? Around 61 percent of the voters in the EU had participated in the first EU elections. In the 2014 elections, it was nearly 20 percent less – a growing refusal to even legitimate this parliament.
This development is certainly painful for the early supporters of the Europe idea. For example, for the young Klaus Mann, the son of Thomas Mann, who later said, "I was against nationalism – how could I not be for pan-Europe ...?" The Europe idea was "initially very well received by intellectual youth," recalls Klaus Mann of the 1920s.
Cross-border and international – that corresponded also to the prominent sponsors, who had invested much money into the Europe idea ... without Klaus Mann having been aware, at the time: 60 thousand gold mark, which served as start-up financing, came from German banks, from the export-oriented chemical industry, from the Robert Bosch Corp. or from the National Association of German Industry. The first Europe Manifest explicitly stated that the continent must unite against the "non-European economic empires America, ... Russia and East Asia."
Rudolf Hilferding, an ideological founding father of today's EU, had supported the fight against the "non-European economic empires" in Russia and East Asia. However, it is doubtful that he would vote in these EU elections.
Hilferding had been minister of finance in two German governments and was against thinking in national terms. He said that pan-Europe would insure peace through continental economic interdependence. Hilferding proclaimed a new era: the era of "capitalist pacifism" in cosmopolitan Europe would bring peace and prosperity.
However, both Rudolf Hilferding, the social democrat minister, and Klaus Mann, the writer, have had to pay a high price for the "capitalist pacifism" idea of Europe – and they were not the only ones.
First, during the financial crisis, "capitalist pacifism" unleashed a war on the masses of ordinary citizens, an economic war. Outside the doors of the savings banks, they trembled in fear of their savings – of their hard-working lives.
Because European unification intensified competition, rather than reducing it, those promoting the idea of Europe soon resorted to other means. The economic war became a war of naked violence.
For "Europe," the German chemical industry paid 400 thousand Reich mark – now to the strong arm apparatus of the political gutter, which sought to make Berlin the capital of Europe. And for Bosch, a sponsor of Europe, Adolf Hitler was not all that bad anymore. Rudolf Hilferding's "capitalist pacifism" changed colors and ousted its inventors.
Hilferding, Germany's former minister of finance, had to flee to France, where the armed representatives of the Europe-enthusiastic German chemical industry and Robert Bosch Corp. – the German military occupation forces – caught up with him. "Europe" became the term used to signify Greater Germany.
Hilferding died in occupied Paris in a Gestapo dungeon. His first wife remained in Treblinka, and their son Karl also did not return... Klaus Mann was stripped of his citizenship and later went to the USA. Illusions about the Europe idea? Gone... As a US soldier, he re-entered the destroyed post-war Germany, where the profiteers of German fascism rekindled the idea of Europe. When the German Charlemagne Prize was initiated in Aachen, he died. The German "Europe" resuscitated in the Federal Republic of Germany.
How would Klaus Mann, Hilferding, his first wife and their son, Karl vote in this European Parliamentary election? What would they say about the "Greater Europe" today, about the crises and the new economic war being waged against the common citizens? About the new struggle against the "non-European economic empires America, ... Russia, and East Asia" (against Moscow and Beijing)? What would they say about the wars Europe is waging around the world, and about Europe's mass graveyard in the Mediterranean?
Would they want to legitimize this Europe and go vote?
We do not know, but we can guess...
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