Grenzabschottung im Alleingang
Berlin verstößt mit der neuen Abschottung der Grenzen für Asylsuchende mutmaßlich gegen internationales Recht und provoziert neue Konflikte mit mehreren Nachbarstaaten von Polen über die Schweiz bis Luxemburg.
BERLIN/WARSCHAU/LUXEMBURG (Eigener Bericht) – Die neuen Maßnahmen der Bundesregierung zur Abschottung der deutschen Grenzen gegen Asylsuchende sind Kritikern zufolge rechtswidrig und rufen zudem Konflikte mit den Nachbarstaaten hervor. Dass es legal sei, Asylsuchende ganz pauschal an einer Einreise zu hindern, wie Berlin es beschlossen hat, das werde sogar in der EU-Kommission infrage gestellt, wird berichtet. Beobachter gehen von Klagen gegen das deutsche Vorgehen vor und halten eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gegen Berlin für nicht unwahrscheinlich. Die verschärften Grenzkontrollen, die vergangene Woche eingeführt wurden, um potenzielle Asylsuchende aufzuspüren, stoßen im In- und im Ausland auf Protest. So protestiert etwa der Oberbürgermeister von Kehl, die Kontrollen sabotierten die mühevoll aufgebaute Kooperation mit dem französischen Strasbourg. Dass sie ausgerechnet am 8. Mai beschlossen worden seien, zeuge von bedauerlichem Mangel an politischer Sensibilität. Große Verärgerung äußern die Regierungen mehrerer Nachbarstaaten. Er akzeptiere es nicht, wenn „irgendjemand Migrantengruppen nach Polen“ schicken wolle, warnt Ministerpräsident Donald Tusk. Kanzler Friedrich Merz gibt sich kompromisslos.
Das juristische Konstrukt der Bundesregierung
Die Bundesregierung stützt sich, weil dauerhafte Grenzkontrollen im Schengen-Raum nicht mit EU-Recht vereinbar sind, bei ihrem Vorgehen auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser gestattet es den EU-Mitgliedstaaten, auf nationale anstelle von EU-Gesetzen zurückzugreifen, wenn dies zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ oder zum „Schutz der inneren Sicherheit“ erforderlich ist.[1] Das nationale Gesetz, das die Bundesregierung nun heranzieht, ist Artikel 18 Absatz 2 des deutschen Asylgesetzes (AsylG), in dem es lapidar heißt, „dem Ausländer“ sei „die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist“.[2] Sämtliche Nachbarstaaten der Bundesrepublik werden offiziell als „sichere Drittstaaten“ eingestuft. Berlin geht nun entsprechend dazu über, Asylsuchende grundsätzlich abzuweisen. Ausnahmen sollen nur bei Kindern und Schwangeren gemacht werden; schwammig heißt es, das Vorgehen solle „verhältnismäßig“ sein.[3] Damit bricht Deutschland freilich die Dublin-Verordnung, die zwar die Möglichkeit eröffnet, Asylsuchende in dasjenige Mitgliedsland abzuschieben, über das sie in die EU gelangt sind, die aber zugleich dazu verplichtet, herauszufinden, welches Land dies ist. In Berlin heißt es dazu, die Dublin-Verordnung dürfe man ignorieren, da sie in der Praxis nicht funktioniere.[4]
Berlin spielt auf Zeit
Dass das juristische Konstrukt, mit dem die Bundesregierung ihr Vorgehen legitimiert, rechtlich haltbar sei, wird von nicht wenigen bezweifelt. Über die EU-Kommission heißt es, in ihr werde das Ganze „kritisch gesehen“.[5] Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe Bundeskanzler Friedrich Merz bei seinem Besuch am Freitag in Brüssel „den Gefallen“ getan, „die rechtliche Skepsis“, die in der Kommission herrsche, „nicht öffentlich“ zu äußern. Verschwunden ist die Skepsis deshalb freilich nicht. Dass es zu Klagen gegen das Vorgehen kommen wird, gilt als ausgemacht. Dann werde Berlin begründen müssen, wieso es etwa die „innere Sicherheit“ durch die Aufnahme von Asylsuchenden gravierend bedroht sehe, konstatieren Beobachter. Merz habe bislang stets „mit überfüllten Asylbewerberunterkünften, überforderten Schulen und Gewalt“ argumentiert; man müsse abwarten, ob dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) dies als Begründung genüge, vor allem auch mit Blick auf die aktuell „sinkenden Asylzahlen“.[6] Allerdings heißt es auch, es werde „womöglich Jahre“ dauern, „bis es zu Urteilen kommt“. „Bis dahin“, so laute die Hoffnung der Bundesregierung, könne „der Zuzug nach Deutschland deutlich zurückgegangen“ sein.[7] Berlin spielt also – wohl im Bewusstsein der Fragwürdigkeit des eigenen Vorgehens – auf Zeit.
„Nicht viel Fingerspitzengefühl“
Zur Skepsis bezüglich der juristischen Tragfähigkeit kommt schon jetzt massive politische Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung hinzu. Diese kommt zunächst von den direkt betroffenen Kommunen, so etwa aus dem baden-württembergischen Kehl, das äußerst eng mit dem französischen Strasbourg kooperiert. Man sei „immer aufgefordert“ worden, im Namen Europas „gemeinsame Projekte zu machen“, erklärt der parteilose Oberbürgermeister von Kehl, Wolfram Britz; nun habe man also „eine gemeinsame Straßenbahn, gemeinsame Brücken, einen gemeinsamen Kindergarten“.[8] „Straßburger arbeiten in Kehl, Kehler in Straßburg“, wird Britz erläuternd zitiert. Die massiv verstärkten Grenzkontrollen riefen lange Staus im Straßenverkehr zwischen den zwei Städten hervor; auch werde „durch deutsche Kontrollen der Tramverkehr quer durch die Europastadt Straßburg gestört“. „Wir können das Vorgehen nur scharf kritisieren“, äußert Britz weiter: „Wir fühlen uns zurückgeworfen in Zeiten, die wir längst überwunden glaubten.“ Dass die dauerhaften Grenzkontrollen – eine Forderung der extremen Rechten zur Flüchtlingsabwehr – ausgerechnet am 8. Mai eingeführt worden seien, am Jahrestag der Befreiung Europas vom NS-Terror, das zeige „nicht viel Fingerspitzengefühl“ seitens der neuen Bundesregierung unter Kanzler Merz.[9]
„Verstoß gegen geltendes Recht“
Wachsender Unmut wird vor allem auch aus den Nachbarstaaten laut. So hat Luxemburgs Innenminister Léon Gloden bereits in der vergangenen Woche erklärt, er lehne die deutschen Grenzkontrollen mit Blick auf die rund 52.000 Menschen, die täglich aus Deutschland zur Arbeit nach Luxemburg pendeln, ab: „Unnötige Störungen des grenzüberschreitenden Verkehrs müssen vermieden werden“.[10] Protest kommt auch aus der Schweiz. Zwar hätten die neuen Kontrollen dort noch nicht zu größeren Staus geführt, hieß es Ende vergangener Woche; doch habe man ganz grundsätzliche Einwände: „Systematische Zurückweisungen an der Grenze, wie dies Deutschland plant, verstossen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht“, teilte Justizminister Beat Jans mit.[11] Von etwaigen „Maßnahmen“ gegen die Berliner Praktiken ist die Rede. Kritik äußert zudem Österreich, dessen Innenministerium am vergangenen Mittwoch bekräftigte: „Wir gehen davon aus, dass sich Deutschland bei allen Maßnahmen, die gesetzt werden, an die europäische Rechtsordnung hält.“[12] „Faktische Maßnahmen der deutschen Behörden, die davon abweichen“, hieß es weiter, „werden nicht akzeptiert.“ Wien zeigte sich allerdings bereit, die weitere Verschärfung von Grenzkontrollen im gemeinsamen Vorgehen auf EU-Ebene voranzutreiben.
„Nicht akzeptabel“
Besonders scharfe Kritik äußerte schon am Mittwochabend Polens Ministerpräsident Donald Tusk, als er Bundeskanzler Merz zum Antrittsbesuch in Warschau empfing. Tusk wies unter anderem auf die inzwischen fast 95.000 Menschen mit Wohnsitz in Polen hin, die täglich zur Erwerbsarbeit nach Deutschland pendeln.[13] Bereits heute seien die langen Wartezeiten an der Grenze im Alltag sehr lästig, stellte er fest; sie müssten kürzer werden: „Da werde ich auch sehr hartnäckig bleiben“.[14] Eine einseitige Abweisung von Asylsuchenden durch die deutschen Grenzbehörden lehne Warschau ab, erklärte Tusk; er lege vielmehr Wert darauf, dass es „weder entsprechende Fakten noch auch nur den Eindruck gibt, dass irgendjemand – darunter auch Deutschland – jetzt Migrantengruppen nach Polen schicken möchte“: „Das würde Polen nicht akzeptieren.“[15]
„Vollumfänglich informiert“
Merz‘ Antwort lässt eine Verhärtung der Konflikte um das neue deutsche Vorgehen an den Grenzen erwarten. Der Kanzler habe kühl auf dem Recht sämtlicher EU-Mitgliedstaaten beharrt, den „Zugang auf ihr Territorium zu regulieren“, wird berichtet. Ein Kompromiss mit den Nachbarstaaten ist also aus seiner Sicht unnötig. Am Freitag stellte Merz in Brüssel klar: „Wir werden auch weiter zurückweisen“.[16] Dies geschehe aber „alles im Einklang mit europäischem Recht“. „Es gibt hier keinen deutschen Alleingang“, behauptete der Kanzler und begründete das damit, „unsere europäischen Nachbarn“ seien über Berlins Vorgehen „vollumfänglich informiert“. Die Auffassung, es sei kein Alleingang, wenn man bedeutende Entscheidungen zwar völlig eigenmächtig fälle, aber die Betroffenen darüber großzügig in Kenntnis setze, wird jenseits der deutschen Grenzen nicht überall geteilt.
[1] Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. eur-lex.europa.eu.
[2] Asylgesetz (AsylG). gesetze-im-internet.de.
[3], [4] Marlene Grunert, Mona Jaeger: Welche Notlage? Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2025.
[5] Thomas Gutschker: Merz präsentiert sich als guter Europäer. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2025.
[6] Marlene Grunert, Mona Jaeger: Welche Notlage? Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2025.
[7] Mona Jaeger, Eckart Lohse: Dobrindts Vorstoß sorgt für Unmut bei Nachbarn. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.05.2025.
[8], [9] Kehler Rathauschef kritisiert verstärkte Grenzkontrollen deutlich. swr.de 09.05.2025.
[10] Luxemburgs Innenminister kritisiert geplante Verschärfung der Grenzkontrollen. spiegel.de 06.05.2025.
[11] Mehr Kontrollen an deutschen Grenzen – Folgen für die Schweiz? srf.ch 09.05.2025.
[12] Göran Schattauer: Österreich macht knallharte Asyl-Ansage an Dobrindt: „Werden wir nicht akzeptieren“. focus.de 08.05.2025.
[13] Holger Seibert: Immer mehr Menschen pendeln aus Osteuropa nach Deutschland. iab-forum.de 15.04.2024.
[14] Stefan Locke: Klar, aber hartnäckig. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.05.2025.
[15] Mona Jaeger, Eckart Lohse: Dobrindts Vorstoß sorgt für Unmut bei Nachbarn. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.05.2025.
[16] „Es gibt hier keinen deutschen Alleingang“. tagesschau.de 09.05.2025.

ex.klusiv
Den Volltext zu diesem Informationsangebot finden Sie auf unseren ex.klusiv-Seiten - für unsere Förderer kostenlos.
Auf den ex.klusiv-Seiten von german-foreign-policy.com befinden sich unser Archiv und sämtliche Texte, die älter als 14 Tage sind. Das Archiv enthält rund 5.000 Artikel sowie Hintergrundberichte, Dokumente, Rezensionen und Interviews. Wir würden uns freuen, Ihnen diese Informationen zur Verfügung stellen zu können - für 7 Euro pro Monat. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.
Möchten Sie dieses Angebot nutzen? Dann klicken Sie hier:
Persönliches Förder-Abonnement (ex.klusiv)
Umgehend teilen wir Ihnen ein persönliches Passwort mit, das Ihnen die Nutzung unserer ex.klusiven Seiten garantiert. Vergessen Sie bitte nicht, uns Ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen.
Die Redaktion
P.S. Sollten Sie ihre Recherchen auf www.german-foreign-policy.com für eine Organisation oder eine Institution nutzen wollen, finden Sie die entsprechenden Abonnement-Angebote hier:
Förder-Abonnement Institutionen/Organisationen (ex.klusiv)