Verbündete Rivalen
Bundeskanzler Merz wird zu Gesprächen in Paris erwartet. Berlin hat zuletzt mehrfach Interessen der deutschen Industrie zum Schaden der französischen Konkurrenz durchgesetzt. Die deutsch-französische Rivalität dauert an.
BERLIN/PARIS (Eigener Bericht) – Nach seiner erst im zweiten Anlauf geglückten Wahl zum neuen Bundeskanzler wird Friedrich Merz am heutigen Mittwoch zu ersten Gesprächen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Paris erwartet. Merz hat angekündigt, die Beziehungen zwischen den beiden stärksten Mächten der EU, die immer wieder von bitterer Rivalität zwischen Berlin und Paris überschattet werden, verbessern zu wollen. Zuletzt war es der Bundesregierung mehrmals gelungen, deutsche Interessen in der EU auf französische Kosten durchzusetzen. So hatte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober 2022 den Aufbau eines europaweiten Flugabwehrsystems unter Einbeziehung deutscher, aber unter Ausschluss französischer Rüstungskonzerne eingeleitet. EU-Planungen zur Schaffung einer Satellitenkonstellation, die an dem Starlink-Satellitensystem von Elon Musk orientiert ist, wurden von Berlin immer wieder torpediert, weil französische Unternehmen in ihr eine starke Stellung innehatten. Schon in Kürze könnten sie endgültig zum Scheitern gebracht werden. Paris hingegen ist es zuletzt gelungen, gegen den Willen Berlins außenpolitisch eine führende Rolle in der EU einzunehmen – und zwar mit Blick auf den Ukraine-Krieg.
Unter französischer Führung
Frankreich ist es im Lauf der vergangenen Monate gelungen, außenpolitisch eine führende Rolle in der EU einzunehmen. Deutlich wurde dies insbesondere im Rahmen der Planungen für das Vorgehen der europäischen Staaten nach einem etwaigen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg, bei denen Frankreich gemeinsam mit Großbritannien die Initiative übernommen hat. Dies schließt Gespräche über eine mögliche Stationierung europäischer Truppen – offiziell zur Absicherung einer Waffenruhe – in der Ukraine ein, zu der sich bislang vor allem die französische und die britische Regierung bereit erklärt haben. Verhandlungen darüber sind mehrfach unter französischer Leitung in Paris geführt worden. Weitere Verhandlungen haben zudem unter britischer Leitung in London stattgefunden. Der Mitte November gestartete Versuch von Bundeskanzler Olaf Scholz, mit einem Telefongespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin seinerseits die Initiative in Sachen Ukraine zu übernehmen, scheiterte. Die Abstimmung mit den Vereinigten Staaten über den weiteren Umgang mit dem Ukraine-Krieg wird, insoweit sie überhaupt noch stattfindet, ebenso eher von Paris oder auch von London organisiert als von Berlin. Für die Bundesrepublik ist das besonders schmerzlich, da sie Osteuropa traditionell als ihr eigenes Einflussgebiet begreift.
Flugabwehr ohne Frankreich
Vorausgegangen waren von Deutschland initiierte Schritte, die innerhalb der EU Frankreich abgedrängt hatten. Einer bestand darin, die von Berlin im Oktober 2022 gestartete European Sky Shield Initiative (ESSI), ein europaweites, gestaffeltes Flugabwehrsystem, ohne Paris und ohne Einbindung des französisch-italienischen Abwehrsystems SAMP/T zu planen. Die ESSI sieht nur die Beschaffung des deutschen Systems IRIS-T, des US-Systems Patriot und des israelischen Systems Arrow3 vor.[1] Der ESSI haben sich inzwischen 23 europäische Staaten angeschlossen; Frankreich und Italien hingegen bleiben außen vor. Der französische Versuch, eine Gegeninitiative unter expliziter Einbindung des Systems SAMP/T zu starten, scheiterte.[2] Fachleute aus Frankreich wiesen von Anfang an darauf hin, die ESSI fungiere vor allem als Verkaufshilfe für IRIS-T, ein System, das seit seiner Einführung im Jahr 2005 zunächst kaum Abnehmer gefunden habe, das nun aber durch seinen Einsatz im Ukraine-Krieg zum Verkaufsschlager für seinen Hersteller Diehl geworden sei. Diehl teilte nach dem Abschluss eines Liefervertrags mit Bulgarien im Oktober 2024 mit, die „Familie der IRIS-T-Nutzer“ sei jetzt auf 20 Mitglieder gewachsen.[3] Das Rüstungsunternehmen Hensoldt, das Radare für IRIS-T produziert, hatte schon im Juli 2024 berichtet, dank ESSI habe man inzwischen Verträge für mehr als 80 Radaranlagen.[4] Frankreich geht leer aus.
National statt europäisch
Ein akutelles Großprojekt der EU wiederum, das vor allem der französischen Luft- und Raumfahrtindustrie ansehnliche Gewinne verspricht, könnte an einem möglichen Rückzug Deutschlands scheitern. Dabei handelt es sich um IRIS2, ein jahrelang geplantes Vorhaben, das Mitte Dezember vergangenen Jahres schließlich konkret auf den Weg gebracht wurde. IRIS2 ist ein Satellitennetzwerk, das als Alternative zum Satellitennetzwerk Starlink von Elon Musk konzipiert ist und vor allem kommunikative, auch militärisch nutzbare Funktionen haben soll; geplant sind der Bau von rund 300 Satelliten und ihre Stationierung im Weltall bis zum Jahr 2030. Die Kosten werden auf elf Milliarden Euro beziffert.[5] Beteiligt sind Satellitenbetreiber aus Frankreich (Eutelsat), Luxemburg (SES) und Spanien (Hispasat); neben deutschen Unternehmen (OHB) sowie Konzernen mit bedeutenden Standorten in der Bundesrepublik (Airbus) sind vor allem französische Konzerne wie etwa Thales Alenia Space beteiligt.[6] Berlin hatte IRIS2 im vergangenen Jahr massiv torpediert; die Bundesregierung war der Ansicht, Frankreich profitiere zuviel, Deutschland zuwenig. Kürzlich wurde bekannt, dass Berlin jetzt eine nationale Satellitenkonstellation plant (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Dies wäre voraussichtlich mit einem deutschen Ausstieg aus IRIS2 und mit dessen Ende verbunden – zum Schaden Frankreichs.
Ungleiche Schulden
Finanzierbar wird der Plan, eine komplette Satellitenkonstellation im nationalen Alleingang herzustellen und im All zu stationieren, durch die Doppelentscheidung Deutschlands und der EU, zum einen eine Aufnahme von Krediten zur Bezahlung von Rüstungsprojekten von der deutschen Schuldenbremse auszunehmen sowie zum anderen die Schuldenregeln der EU auf Rüstungsausgaben im Wert von bis zu 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht anzuwenden. Dies ermöglicht es Berlin, sich zugunsten seiner rasanten Hochrüstung faktisch unbegrenzt zu verschulden. Bis zum 30. April, dem Stichtag, hatten zwölf EU-Staaten in Brüssel beantragt, die 1,5-Prozent-Ausnahmeregel anwenden zu dürfen. Vier weitere wollten sich in Kürze nachmelden. Einige wenige EU-Staaten, etwa die Niederlande und Schweden, sind so gering verschuldet, dass sie die Hochrüstung auch ohne Ausnahmeregel stemmen können.[8] Frankreich hingegen nimmt die Ausnahmeregel aus anderem Grund nicht wahr. Seine Verschuldung liegt schon jetzt bei gut 110 Prozent seines BIP und damit so hoch, dass jegliche weitere Kreditaufnahme die Risikoaufschläge auf seine Staatsanleihen in die Höhe schnellen lassen könnte. Damit drohte eine Schuldenkrise wie diejenige der Jahre ab 2010 in der EU. Die neue EU-Ausnahmeregel bietet also Deutschland die Chance, die Bundeswehr zur stärksten Streitmacht der EU hochzurüsten und dabei Frankreichs Streitkräfte hinter sich zu lassen.
Erste Gespräche
An diesem Mittwoch wird der neue Bundeskanzler Friedrich Merz zu ersten Gesprächen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Paris erwartet. Merz hat angekündigt, er wolle die Beziehungen zu Frankreich verbessern, nicht zuletzt, um eine schlagkräftige Position der EU in den Auseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump zu ermöglichen. Erwartet wird unter anderem, dass der neue Kanzler Berlin in Sachen Ukraine-Krieg schrittweise wieder in eine maßgebliche Rolle bringt und damit die alleinige französisch-britische Führung beendet. Von Zugeständnissen an die französische Rütungs- oder Raumfahrtindustrie ist bislang nichts bekannt.
[1] S. dazu Die deutsch-französische „Freundschaft“.
[2] Elise Vincent, Philippe Ricard: Face au projet de bouclier antimissile allemand, la France esquisse sa contre-offre. lemonde.fr 18.06.2023.
[3] Diehl Defence welcomes Bulgaria in the IRIS-T SLM user family. diehl.com 08.10.2024.
[4] Hensoldt supplies air defence radars to Latvia and Slovenia. hensoldt.net 04.07.2024.
[5] Thomas Jahn, Julian Olk, Carsten Volkery: Weltallprojekt der EU – Deutschland zahlt, Frankreich profitiert. handelsblatt.com 17.12.2024.
[6] Philippe Jacqué: L’Europe lance sa future constellation de satellites de communication. lemonde.fr 16.12.2024.
[7] S. dazu Die Rüstungsregierung im Amt.
[8] Mehr Schulden für Aufrüstung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.05.2025.

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