Einflusskampf im Baltikum (II)
Mit einem deutsch geführten multinationalen Manöver auf der Ostsee untermauert Berlin seinen Regionalmachtanspruch im Baltikum – in Konkurrenz zu den NATO-Verbündeten USA und Polen.
BERLIN/WARSCHAU (Eigener Bericht) – Unter deutscher Führung proben die Seestreitkräfte von 14 NATO-Mitgliedern und -Partnern in diesen Tagen den Krieg gegen Russland auf der Ostsee. Mit dem diesjährigen Northern Coasts-Manöver, das am Samstag zu Ende geht, trainieren die westlichen Staaten das Kontrollieren der baltischen Seewege und suchen ihre „Zusammenarbeit ... im Ostseeraum weiter zu vertiefen“. Im Zuge der 2014 eingeleiteten strategischen Ausrichtung der NATO auf Großmachtkriege mit Russland – oder China – haben die Ostsee und mit ihr Northern Coasts militärisch an Bedeutung gewonnen. Mit dem Manöver bekräftigt Berlin seinen Anspruch, regionale Führungsmacht im Baltikum zu sein. Die Kriegsübung ist ein weiterer Meilenstein für das Marinekommando in Rostock. Es ist das erste Mal, dass die seit 2019 im Aufbau befindliche Führungsstruktur ein Manöver dieser Größenordnung plant und durchführt – ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur NATO-Zertifizierung des Kommandos. Beim Ostsee-Anrainer Polen stoßen die deutschen Regionalmachtansprüche allerdings auf Widerstand. Warschau steht Deutschlands Dominanz in der EU skeptisch gegenüber und ist zunehmend bemüht, sich im Bündnis mit den USA selbst als Regionalmacht in Osteuropa zu positionieren.
Northern Coasts 2023
Das zweiwöchige Manöver Northern Coasts 2023 [1] halten die NATO-Staaten hauptsächlich vor den Küsten und auf Truppenübungsplätzen Lettlands und Estlands ab [2]. Insgesamt sind knapp 30 Schiffe und Boote, mehr als 10 Hubschrauber und Flugzeuge sowie über 3.200 Soldaten beteiligt, darunter zwei Verbände des Marineanteils der Schnellen Eingreiftruppe der NATO.[3] Die Bundeswehr stellt neben der Kommandostruktur insbesondere Fregatten, Minenabwehrfahrzeuge, ein U-Boot, Versorgungsschiffe, Seefernaufklärer, Hubschrauber und ABC-Abwehr der Marine; auch das Seebataillon wirkt an der Kriegsübung mit. [4] Außerdem ist die zivile Schifffahrt in das Militärmanöver eingebunden. Die Bundeswehr spricht von einer „engen“ Kooperation zwischen den Seestreitkräften und Reedereien, die für Northern Coasts 2023 Handelsschiffe zur Verfügung stellen, damit die Soldaten bei sogenannten Boarding-Übungen das Entern und „Kontrollieren fremder Schiffe“ trainieren können.[5]
Üben für den Großmachtkrieg
Northern Coasts geht auf eine Initiative der Deutschen Marine aus dem Jahr 2007 zurück. Seitdem führen Deutschland, Dänemark, Finnland und Schweden die jährliche Kriegsübung im Wechsel. Anlass für das neue Format war damals nach Angaben der Bundeswehr die Ostexpansion des NATO-Bündnisses in die ehemals sowjetischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im Jahr 2004.[6] Northern Coasts fand zwar von Anfang an auf der Ostsee statt, stand aber zunächst unter dem Vorzeichen der Interventionskriege des transatlantischen Blocks im Globalen Süden. Der Ostsee wurde zu dieser Zeit keine herausragende militärstrategische Bedeutung beigemessen. Auf dem NATO-Gipfel im Jahr 2014 begannen die Mitgliedstaaten dann aber, sich auch militärisch auf die Großmachtkonfrontation mit Russland vorzubereiten. Seitdem betonen Militärstrategen die Bedeutung der Ostsee als „maritime Lebensader“: Nicht nur wichtige Handelsrouten, sondern auch „die wichtigsten Nachschubwege für die NATO nach Finnland und ins Baltikum – und damit zu den dort stationierten Truppen der enhanced forward presence – verlaufen über“ die Ostsee, heißt es bei der Bundeswehr.
Zweierlei Führung
Vor diesem Hintergrund hat die Truppe den inhaltlichen Fokus von Northern Coasts vom Krieg gegen nichtstaatliche Gegner vor den Küsten Asiens und Afrikas zum Großmachtkrieg „speziell an der Nordostflanke der NATO“ verschoben: Aus dem bloßen Trainingsgebiet Baltikum war wieder potenzielles Kriegsgebiet geworden.[7] Die USA führen ein multinationales Großmanöver auf der Ostsee bereits seit den 1970er Jahren regelmäßig durch, die sogenannten BALTOPS-Übungen. Mit dem Ausrichten von Northern Coasts auf Großmachtkonflikte auf der Ostsee entwickelt sich das deutsche Manöver zur Parallele zur bereits bestehenden US-Kriegsübung. „Besonders für die Ostseeländer“ sind nach Einschätzung der Bundeswehr „beide“ Manöver „ideale Gelegenheiten“, gemeinsame Kriegsoperationen zu proben – eben nicht nur unter amerikanischer, sondern auch unter deutscher Führung.[8]
Deutsche Ambitionen
Aktivitäten an der NATO-Nordostflanke, speziell auf der Ostsee, seien ein „elementarer Schwerpunkt“ der Deutschen Marine, heißt es bei der Bundeswehr.[9] Seit 2019 baut Berlin in Rostock den deutschen Führungsstab DEU MARFOR auf, der Kern einer NATO-Kommandostruktur für die Ostsee werden soll, des sogenannten Baltic Maritime Component Command. Mit dem Marinekommando in Rostock erhebt Berlin den Anspruch, Operationen der NATO in der gesamten Schlüsselregion Ostsee zu befehligen. Es sei „eine Premiere“, erklärt der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Jan Christian Kaack, „dass ein Manöver von meinem Stab und mir aus Rostock geführt wird, obwohl es vor den Küsten und auf dem Territorium Lettlands und Estlands stattfindet“. Northern Coasts 2023 sei „ein gewaltiger Schritt zur vollen Einsatzbereitschaft“ des Marinekommandos, das die Übung plant und anführt.[10]
Deutsch-polnische Konkurrenz
Der deutsche Regionalmachtanspruch im Baltikum – wie auch die deutsche Dominanz in der EU – ist dabei alles andere als unwidersprochen. In Europa brauche es „keine deutsche Führung, sondern deutsche Selbstbeschränkung“, äußerte bereits im vergangenen Jahr der polnische Außenminister Zbigniew Rau.[11] Polen befinde sich im „permanenten Streit mit Deutschland oder dem deutsch-französischen Tandem, dem es Hegemonialpolitik in Europa vorwirft“, urteilen Experten.[12] Sein bilaterales Bündnis mit den USA sei ein „politischer Hebel“, mit dem Warschau innerhalb der EU ein „Gegengewicht“ gegen Berlin und Paris zu schaffen suche, urteilt auch die vom Bundeskanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Aus der von Polen initiierten Drei-Meere-Initiative, in die auch die Baltischen Staaten und die USA eingebunden sind, war Deutschland zunächst ausgeschlossen.[13] Polen positioniere sich als „regionale Führungsmacht“ und damit als „erster Ansprechpartner“ der USA in Osteuropa, inklusive Baltikum, heißt es bei der SWP.[14] Und zwar auch militärisch: Polen sei „eine Drehscheibe für die US-Präsenz an der gesamten NATO-Ostflanke“.[15] Damit rivalisiert es mit Berlin und dessen Vormachtstreben im Baltikum.
Washington statt Berlin
Polen setzt, anders als Deutschland, nicht auf eine Stärkung der militärischen Fähigkeiten der EU, sondern exklusiv auf die Kooperation mit den USA. Doppelstrukturen zwischen EU und NATO, wie Berlin sie beispielsweise mit dem Marinekommando in Rostock aufgebaut hat, treffen in Polen auf Kritik.[16] Zusätzlich zur EU-Ebene herrscht in Warschau auch in den bilateralen Beziehungen Unmut über Berlin. Prawo i Sprawiedliwość (PiS), die derzeitige polnische Regierungspartei, positioniert sich im laufenden Wahlkampf als Kraft, die Polen aus einem Abhängigkeitsverhältnis vom dominanten Deutschland befreie.[17] Und auch Berlins Weigerung Polens Forderungen nach Reparationszahlungen für die zahllosen deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg anzuerkennen, belastet die Beziehungen. Warschau erhebt einen Anspruch auf eine Summe von mehr als einer Billion Euro.[18]
Mehr zum Thema: Einflusskampf im Baltikum.
[1] Northern Coasts 23: Maritimes Großmanöver in der Ostsee unter deutscher Führung. Pressemitteilung der Deutschen Marine Nr. 48/23. Berlin, 31.08.2023.
[2] Übersicht Northern Coasts 2023. Presse- und Informationszentrum Marine, Stand 28.08.2023.
[3] Northern Coasts 23: Maritimes Großmanöver in der Ostsee unter deutscher Führung. Pressemitteilung der Deutschen Marine Nr. 48/23. Berlin, 31.08.2023.
[4] Übersicht Northern Coasts 2023. Presse- und Informationszentrum Marine, Stand 28.08.2023.
[5], [6], [7], [8] Northern Coasts: Deutschland lädt zum Ostseemanöver. bundeswehr.de.
[9], [10] Northern Coasts 23: Maritimes Großmanöver in der Ostsee unter deutscher Führung. Pressemitteilung der Deutschen Marine Nr. 48/23. Berlin, 31.08.2023.
[11] Kai-Olaf Lang: Warschaus konfrontative Deutschlandpolitik. swp-berlin.de 04.11.2022.
[12] Polens Außen- und Sicherheitspolitik. Polen–Analysen Nr. 310, 18.04.2023.
[13] S. dazu Osteuropas geostrategische Drift.
[14] Kai-Olaf Lang: Polens unersetzbarer Partner. swp-berlin.de Juli 2019.
[15] Polens Außen- und Sicherheitspolitik. Polen–Analysen Nr. 310, 18.04.2023.
[16] Lena Strauß, Nicolas Lux: Europäische Verteidigungspolitik – Diskurse in und über Polen und Frankreich. swp-berlin.de 24.01.2019.
[17] Der PiS-Chef, der Kanzler und ein fiktives Telefonat. tagesschau.de 11.09.2023.
[18] Republic of Poland, Ministry of Foreign Affairs: Information campaign on reparations from Germany sets off. gov.pl 02.06.2023.

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