„Russen nicht willkommen”

Russland-Sanktionen führen zu Exzessen: Russen dürfen teils nicht mehr mit Objekten des Alltagsbedarfs in die EU einreisen; russische Geschäftsleute dürfen auch ohne Fehlverhalten sanktioniert werden.

BERLIN/BRÜSSEL/MOSKAU (Eigener Bericht) – Russinnen und Russen dürfen ab sofort nicht mehr mit dem Auto in die EU einreisen und müssen teilweise sogar Gegenstände ihres persönlichen Alltagsbedarfs an der Grenze zurücklassen, darunter Laptops und Kleidung. Dies ist das Resultat einer mehrtägigen Debatte über eine aktualisierte Regelung der EU zur Umsetzung der Russland-Sanktionen, die in der vergangenen Woche Wellen geschlagen hat. Das Verbot, mit in Russland registrierten Autos in die EU einzureisen, wird inzwischen in Finnland, den baltischen Staaten und Polen umgesetzt; Norwegen zieht dies in Betracht. Litauen will darüber hinaus jegliche Mitnahme von Gegenständen des persönlichen Bedarfs unterbinden. Während russische Exiloppositionelle energisch protestieren – die Maßnahme trifft auch sie –, hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) geurteilt, dass Sanktionen gegen russische Geschäftsleute sogar dann zulässig sind, wenn diese weder den Ukraine-Krieg noch die russische Regierung unterstützen. Demnach genügt es, ein einflussreicher Geschäftsmann in einer nicht unbedeutenden Branche der russischen Wirtschaft zu sein, um sanktioniert zu werden. Der in Rechtsstaaten übliche Schuldnachweis ist nicht mehr nötig.

Sanktionen ohne Schuldnachweis

Bereits am 6. September hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) entschieden, dass Sanktionen gegen russische Geschäftsleute auch dann zulässig sind, wenn sie sich nicht mit konkreten Vorwürfen untermauern lassen. Geklagt hatten russische Unternehmer, die auf die Sanktionsliste der EU gesetzt worden waren; damit ist ihr Vermögen in der EU eingefroren, ihnen ist die Einreise in EU-Mitgliedstaaten untersagt. Die Kläger hatten festgestellt, die EU habe die Maßnahmen gegen sie verhängt, ohne ihnen eine aktive Mitwirkung am Ukraine-Krieg oder anderweitige direkte Unterstützung für die russische Regierung nachzuweisen.[1] Das EuG urteilte nun, ein solcher Nachweis sei zur Verhängung von Sanktionen nicht erforderlich. Es genüge vollauf, „in Wirtschaftsbereichen tätig“ zu sein, „die der Regierung der Russischen Föderation als wichtige Einnahmequelle dienen“.[2] So könne einer der Kläger „als einflussreicher Geschäftsmann in der Öl- und Gasindustrie angesehen werden ..., die für die russische Regierung eine wichtige Einnahmequelle darstellt“. Schon damit sei es zulässig, ihn mit harschen Sanktionen zu belegen. Eine „ungerechtfertigte, willkürliche und unverhältnismäßige“ Einschränkung der Grundrechte der Kläger, „darunter das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation“, liege nicht vor.

Ein Präzedenzfall

Bleibt das – nur erstinstanzliche – Urteil bestehen, setzt es in der EU neue Standards. Dann müssten erfolgreiche Geschäftsleute aus Drittstaaten prinzipiell mit Sanktionen rechnen, sobald die EU mit drakonischen Maßnahmen gegen die Regierung ihres Landes vorgeht. Die einzige Möglichkeit, den Sanktionen zu entkommen, bestünde dann darin – dies bestätigt ein anderes Urteil des EuG [3] –, auf die eigene Geschäftstätigkeit zu verzichten, also seine berufliche Existenz aufzugeben. Die Hoffnung, bei einem Ausbleiben eventuell schuldhaften Handelns auch nicht sanktioniert zu werden, entfiele. Wendete man den neuen Standard auf die EU-Staaten selbst und auf ihr vergangenes Handeln an, dann hätten nicht nur drastische Maßnahmen gegen die rot-grüne Bundesregierung des Jahres 1999 ergriffen werden müssen – wegen des Führens eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen Jugoslawien. Es wäre dann auch gerechtfertigt gewesen, hätten nicht am Krieg beteiligte Staaten Sanktionen etwa gegen führende Geschäftsleute aus der deutschen Kfz-Branche verhängt, deren zentrale Bedeutung für Wirtschaft sowie Regierung der Bundesrepublik außer Frage steht. Ähnliches gälte etwa für führende Geschäftsleute in Polen bzw. in Frankreich wegen der Beteiligung ihrer Regierungen an den völkerrechtswidrigen Kriegen gegen den Irak (2003) bzw. Libyen (2011).

„Sanktionen breit interpretieren“

Die Russland-Sanktionen der EU führen aktuell auch anderweitig zu Exzessen. So hat die EU-Kommission am 8. September ein Papier publiziert, das präzisiert, wie die Maßnahmen gegenüber Russinnen und Russen umgesetzt werden sollen, die in die EU einreisen wollen. Demnach dürfen Autos, die ein russisches Nummernschild haben, nicht mehr über die Grenze gelassen werden. Ausnahmen sind, wenn überhaupt, bloß für EU-Bürger möglich, die aus beruflichen Gründen in Russland leben müssen, etwa für Diplomaten.[4] Finnland, die drei baltischen Staaten und Polen haben im Lauf der vergangenen Woche reagiert und ihre Grenze für russische Fahrzeuge gesperrt. Die EU-Präzisierung, die damit begründet wird, einreisende Russen könnten ihr Auto in der EU verkaufen wollen und so das Sanktionsregime brechen, reicht allerdings noch erheblich weiter. So umfasst die Liste der Waren, die nicht in die EU gelangen dürfen, rund 160 Produkte, darunter etwa Laptops, Reisekoffer, Rasierschaum sowie Kosmetika; auch bei ihnen hegt die EU den Generalverdacht, ihre Besitzer könnten sie nur mit sich führen, um die Sanktionen zu umgehen. Letztere müssten auf jeden Fall „breit interpretiert werden“, heißt es in der inzwischen nochmals aktualisierten Version des EU-Papiers.[5] Der deutsche Zoll schließt sich dem vollumfänglich an.

Kollateralschäden

Mittlerweile ruft die EU-Regelung Proteste hervor – nicht, weil sie faktisch Russinnen und Russen zwingt, bei einer Einreise, sofern diese überhaupt noch möglich ist, ihr Hab und Gut an der Grenze zurückzulassen und sich mehr oder weniger mittellos in die EU zu begeben. Die Regelung trifft neben einfachen Bürgern der Russischen Föderation, die ohne jede politische Absicht einreisen, auch erklärte Gegner der Regierung unter Präsident Wladimir Putin inklusive Aktivisten der russischen Exilopposition, darunter etwa Mitarbeiter des in Russland inhaftierten Alexej Nawalnyj. „Wir bitten, die Entscheidung zu überdenken“, schrieb in der vergangenen Woche zum Beispiel Maria Pewtschych, die Direktorin des von Nawalnyj gegründeten „Fonds zum Kampf gegen die Korruption“: Das Verbot, mit einem Kraftfahrzeug mit russischem Nummernschild einzureisen, sei „ebenso absurd wie das Verbot, mit einem Koffer und Kleidern einzureisen, die in Russland gekauft wurden“. Man erschwere damit auch denjenigen russischen Oppositionellen das Leben, „die gezwungen sind, Russland zu verlassen“, und dabei oft das einfachste Transportmittel nutzen – ihr Auto.[6]

Im Ermessen der Behörden

Die Proteste russischer Regierungsgegner haben die EU mittlerweile veranlasst, ihre Regelung noch ein wenig weiter zu präzisieren. Dabei beharrt Brüssel auf seinem Verbot für die Einreise mit Autos, die in Russland registriert wurden. Allerdings obliege es „den national zuständigen Behörden“, im konkreten Einzelfall „die Situation einzuschätzen und die Verbote entsprechend durchzusetzen“.[7] Es gebe Güter, bei denen tatsächlich kaum der Verdacht erhoben werden könne, ihre Besitzer brächten sie in die EU ausschließlich mit dem Ziel mit, die Sanktionen zu umgehen. Das gelte beispielsweise für „persönlichen Hygienebedarf“, für Kleidungsstücke, die Reisende „in ihrem Gepäck“ mit sich führten, und für Kleidungsstücke, die sie am Körper trügen. In solchen Fällen sollten die zuständigen Behörden „angemessen und mit gesundem Menschenverstand“ vorgehen. Damit allerdings überlässt die EU die Entscheidung darüber, ob etwa Sonnencreme und Kleidungsstücke mit in die Mitgliedstaaten genommen werden dürfen, einzelnen Zollbeamten. Litauen hat Berichten zufolge bereits angekündigt, auch persönliche Gegenstände beschlagnahmen zu wollen.[8] Estlands Außenminister Margus Tsahkna gibt zur Begründung für die Schritte, die sein Staat einleiten wird, auf X (vormals Twitter) an, Russen seien „hier nicht willkommen“, bis „die Ukraine den Sieg erreicht hat“.

 

Mehr zu den Russland-Sanktionen: „Russland ruinieren“ (II).

 

[1] Alexander Haneke: Kaum Hoffnung für die Oligarchen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.09.2023.

[2] Gerichtshof der Europäischen Union: Pressemitteilung Nr. 132/23. Luxemburg, 06.09.0223.

[3] Sanktionen rechtmäßig. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.09.2023.

[4] Finnland schließt Grenze für russische Autos. zdf.de 15.09.2023.

[5] Import, purchase & transfer of listed goods. Frequently asked questions – as of 12 September 2023. finance.ec.europa.eu.

[6] Thomas Gutschker, Reinhard Veser: Empörung über die EU. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.09.2023.

[7] Import, purchase & transfer of listed goods. Frequently asked questions – as of 12 September 2023. finance.ec.europa.eu.

[8] Daniel Säwert: EU-Sanktionen: Brüssel ist scharf auf Russen-Autos. nd-aktuell.de 13.09.2023.


Anmelden

ex.klusiv

Den Volltext zu diesem Informationsangebot finden Sie auf unseren ex.klusiv-Seiten - für unsere Förderer kostenlos.

Auf den ex.klusiv-Seiten von german-foreign-policy.com befinden sich unser Archiv und sämtliche Texte, die älter als 14 Tage sind. Das Archiv enthält rund 5.000 Artikel sowie Hintergrundberichte, Dokumente, Rezensionen und Interviews. Wir würden uns freuen, Ihnen diese Informationen zur Verfügung stellen zu können - für 7 Euro pro Monat. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.

Möchten Sie dieses Angebot nutzen? Dann klicken Sie hier:
Persönliches Förder-Abonnement (ex.klusiv)

Umgehend teilen wir Ihnen ein persönliches Passwort mit, das Ihnen die Nutzung unserer ex.klusiven Seiten garantiert. Vergessen Sie bitte nicht, uns Ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen.

Die Redaktion

P.S. Sollten Sie ihre Recherchen auf www.german-foreign-policy.com für eine Organisation oder eine Institution nutzen wollen, finden Sie die entsprechenden Abonnement-Angebote hier:
Förder-Abonnement Institutionen/Organisationen (ex.klusiv)