Ankaras Krieg (II)

ANKARA/BERLIN/AFRIN (Eigener Bericht) - Die Türkei, NATO-Partner der Bundesrepublik, droht ihren Angriffskrieg gegen Syrien auf den Irak auszuweiten. Man behalte sich vor, gegen die Einheiten der PKK auf nordirakischem Territorium künftig auch mit Landstreitkräften vorzugehen, kündigt Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan an. Wird bereits der türkische Angriffskrieg gegen die kurdischen Gebiete Nordsyriens mit deutschen Waffen geführt, so dürften nach Lage der Dinge auch für einen Einmarsch in den Irak deutsche Leopard 2-Kampfpanzer genutzt werden. Die Bundesregierung hat auch nach dem Beginn der türkischen Aggression gegen Afrin am 20. Januar neue Ausfuhren von Kriegsgerät in die Türkei genehmigt. Dabei warnen inzwischen selbst die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, die türkischen Militäroperationen in Afrin seien mit dem Völkerrecht nicht in Einklang zu bringen; eigentlich "obliege" es der NATO sowie ihren Mitgliedstaaten - darunter Deutschland -, Ankara "von einer Weiterverfolgung" seiner militärstrategischen Ziele in Nordsyrien abzubringen.

Die Eroberung Afrins

Die türkischen Streitkräfte und mit ihnen verbündete Milizen haben zuletzt am Wochenende die nordsyrische Stadt Afrin erobert, die das Zentrum des gleichnamigen Kantons, eines von insgesamt drei syrisch-kurdischen Verwaltungsgebieten, ist. Die rasche Eroberung war möglich, weil die Truppen der kurdischen Einheiten YPG/YPJ sich zurückgezogen hatten, um die befürchtete hohe Zahl an zivilen Todesopfern und die Zerstörung der Stadt vor allem durch türkische Luftangriffe zu vermeiden. Bereits zuvor waren zahlreiche Zivilisten durch türkische Bombardements ums Leben gekommen, zuletzt beim Beschuss des zentralen Krankenhauses von Afrin, bei dem mindestens 16 Menschen getötet wurden. Insgesamt sprechen kurdische Quellen von mehr als 250 zivilen Opfern. Vor den einrückenden Milizen floh offenkundig die überwiegende Mehrzahl der Einwohner - auch, weil die Milizen, die von Ankara als Teil der Freien Syrischen Armee bezeichnet werden, sich faktisch zum großen Teil aus salafistisch-jihadistischen Milieus rekrutieren, darunter unter anderem frühere Milizionäre des IS. Die Zahl der Flüchtlinge ist unklar, nicht zuletzt, weil Afrin selbst bereits zuvor eine hohe Zahl an Flüchtlingen aus anderen Teilen Syriens beherbergte; die Rede ist von einigen hunderttausend Menschen, die zur Zeit aus dem Kanton fliehen. Seit dem Wochenende setzen die salafistisch-jihadistischen Milizionäre jetzt auch in Afrin fort, was sie bereits zuvor in kurdischen Dörfern getan hatten, die sie erobern konnten: Sie plündern, was nicht niet- und nagelfest ist.[1]

Vormarsch nach Osten

Weiteres Blutvergießen steht bevor. Ankara hat angekündigt, seinen Angriffskrieg in Syrien fortsetzen und insbesondere die Stadt Manbij etwas westlich des Euphrat erobern zu wollen. Dort sind bislang neben syrisch-kurdischen Einheiten auch US-Soldaten stationiert, die die kurdischen Kämpfer für den Krieg gegen den IS trainieren. İbrahim Kalın, Sprecher und außenpolitischer Berater des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, gibt an, die türkische Regierung habe mit dem vergangene Woche entlassenen US-Außenminister Rex Tillerson eine Einigung erzielt, der zufolge sie in Manbij eine "Sicherheitszone" errichten werde. Dies läuft auf einen Einmarsch türkischer Truppen und eine Vertreibung der YPG/YPJ-Einheiten hinaus.[2] Unklar ist die weitere Entwicklung. Erdoğan hat mehrmals angekündigt, die türkische Armee über den Euphrat weiter in Richtung Osten marschieren zu lassen - womöglich bis an die irakische Grenze; das liefe auf eine komplette Besetzung aller kurdisch besiedelten Gebiete Nordsyriens hinaus. Türkische Stellen entwickeln außerdem Pläne, in die Türkei geflüchtete Syrer nach Nordsyrien umzusiedeln, während hunderttausende syrische Kurden, die vor den türkischen Streitkräften aus Afrin geflohen sind, in Lagern in anderen Teilen Syriens campieren. Sogar die Annexion der nordsyrischen Territorien durch die Türkei ist im Gespräch.[3]

Aufgabe der NATO

Der Angriffskrieg des NATO-Partners Türkei, ein gravierendes Völkerrechtsverbrechen, belastet auch die Bundesregierung. Selbst wenn Ankara sich zur Legitimierung seiner Operationen auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta berufe, habe es doch zu berücksichtigen, dass dieses "den Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit" unterliege, heißt es in einem vor zwei Wochen fertiggestellten Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags.[4] "Umfang, Ziele und Dauer des militärischen Vorgehens der Türkei in Nordsyrien" erweckten zumindest "Zweifel an der Verhältnismäßigkeit" der Operationen, urteilen die Parlamentsjuristen. Vor allem "das militärische Verfolgen" geostrategischer Ziele gehe "über ein strikt am Gedanken der Selbstverteidigung ausgerichtetes militärisches Handeln hinaus". Ganz abgesehen davon bleibe Ankara auch den unabdingbar erforderlichen "konkreten Beweis für das Vorliegen eines das Selbstverteidigungsrecht auslösenden 'bewaffneten Angriffs' schuldig", heißt es weiter. Der NATO und ihren Mitgliedern "obliege" es daher eigentlich, die Türkei "z.B. im Rahmen von NATO-Konsultationen nach Art. 4 NATO-Vertrag aufzufordern, triftige Beweise für das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage nach Art. 51 VN-Charta beizubringen" und vor allem "von einer Weiterverfolgung der militärstrategischen Ziele in Nordsyrien Abstand zu nehmen". Die Bundesregierung hat freilich nichts dergleichen unternommen.

Eine mögliche Annexion

Noch folgenschwerer wäre es für Berlin, sollte Ankara tatsächlich Teile Nordsyriens annektieren. Entsprechende Vermutungen werden zur Zeit durch Berichte genährt, denen zufolge Ankara Milizionäre und syrisch-arabische Flüchtlinge in den eroberten Gebieten um Afrin ansiedeln und ihnen gleichzeitig die türkische Staatsbürgerschaft verleihen will. Die Bundesregierung geriete in diesem Fall unter Druck, erklären zu müssen, weshalb sie die Annexion fremden Staatsgebiets durch einen engen Verbündeten duldet, während sie Russland wegen der Übernahme der Krim mit massiven Wirtschaftssanktionen belegt. Dabei hat Moskau keinen Angriffskrieg mit vielen Opfern geführt, um die Krim zu übernehmen; und während die Bevölkerung Afrins zu Hunderttausenden geflohen ist, hat die Bevölkerung der Krim den Beitritt in die Russische Föderation mit einem Referendum befürwortet.

Mit deutschen Panzern

Dabei weitet die Bundesregierung zur Zeit ihre Kooperation mit Ankara sogar noch aus - selbst auf dem Feld der Rüstung. Obwohl die türkischen Streitkräfte weiterhin deutsche Leopard 2-Panzer für ihren Angriffskrieg gegen Syrien nutzen - auch der Einsatz der Kampfpanzer in Afrin ist belegt -, genehmigt Berlin unvermindert die Lieferung von Rüstungsgütern in die Türkei. Demnach wurden allein in den ersten fünfeinhalb Wochen nach dem türkischen Überfall vom 20. Januar 20 Exportgenehmigungen für Militärgerät im Wert von 4,4 Millionen Euro erteilt - deutlich mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Dabei hatte der damalige Außenminister Sigmar Gabriel am 16. Februar behauptet, man liefere derzeit "keinerlei Rüstungsgüter": Das sei wegen des türkischen Angriffskriegs gegen Syrien "in Deutschland verboten".[5] Bereits in den drei Wochen vor dem Überfall hatte Berlin 14 Genehmigungen für Exporte in einem Wert von 5,3 Millionen Euro erteilt.

Irak im Visier

Nach Lage der Dinge dürften die deutschen Waffen, die die türkischen Streitkräfte in Nordsyrien nutzen, auch bei einem möglichen weiteren Angriffskrieg Ankaras zum Einsatz kommen - gegen kurdische Kräfte im Irak. Staatspräsident Erdoğan hat zu Wochenbeginn gedroht, mit Landstreitkräften in Zukunft auch gegen Einheiten der PKK im Nordirak vorzugehen, sollte die Regierung in Bagdad sie nicht selbst in absehbarer Zeit niederkämpfen lassen.[6] Weil Letzteres nicht in Sicht ist, steht womöglich nach dem türkischen Überfall auf Nordsyrien noch ein zweiter Überfall auf den Nordirak bevor.

 

Mehr zum Thema: Panzer für die Türkei und Ankaras Krieg.

 

[1] Pro-Turkish forces pillage Afrin after taking Syrian city. middleeasteye.net 18.03.2018.

[2], [3] Michael Martens: Auf dem Weg nach Türkisch-Afrin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.03.2018.

[4] Völkerrechtliche Bewertung der "Operation Olivenzweig" der Türkei gegen die kurdische YPG in Nordsyrien. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. Sachstand WD 2 - 3000 - 023/18.

[5] Millionenschwere Rüstungsexporte in die Türkei trotz Syrien-Kriegs. handelsblatt.com 15.03.2018.

[6] Selcan Hacaoglu: Erdogan Vows to Extend Offensive to East Syria, North Iraq. bloomberg.com 19.03.2018.


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