Wirtschaftsmacht im Abstieg
Mit der Chemieindustrie gerät eine weitere Hauptsäule der deutschen Wirtschaft zunehmend in die Krise. Zentrale Ursachen: Verzicht auf kostengünstiges russisches Erdgas; von Trump erzwungene Zollfreiheit für Importe aus den USA.
BRÜSSEL/BERLIN (Eigener Bericht) – Die anschwellenden Krisenmeldungen aus der deutschen Wirtschaft betreffen nach der Kfz- und der Stahlbranche in wachsendem Maß die Chemieindustrie und damit eine weitere ökonomische Hauptsäule der Bundesrepublik. Laut aktuellen Berichten ist die Produktion der deutschen Chemiebranche im zweiten Quartal 2025 um rund 5 Prozent geschrumpft; insgesamt produziere sie gegenwärtig „so schwach wie 1991“, konstatieren Beobachter. Besonders unter Druck steht sie nicht nur aufgrund günstiger Importe aus China, sondern vor allem, weil der aktuelle Zolldeal der EU mit der Trump-Administration die EU-Zölle auf Einfuhren aus den USA auf Null senkt; US-Chemieprodukte können deshalb nun erfolgreich mit deutschen Gütern konkurrieren. Zudem wirkt sich auch weiterhin aus, dass die deutsche Chemieindustrie kein kostengünstiges russisches Pipelinegas mehr erhält; ihr fehlt damit eine wichtige Grundlage ihrer einstigen, jetzt schwindenden Wettbewerbsfähigkeit. Krisenmeldungen kommen auch aus weiteren Branchen; alles in allem ist die deutsche Industrieproduktion im August um 5,6 Prozent gegenüber dem Vormonat eingebrochen. Die EU greift in wachsendem Umfang auf Schutzzölle zurück.
„Andere wachsen“
Bereits am Mittwoch hatten neue Daten des Statistischen Bundesamts den düsteren Zustand der deutschen Industrie bestätigt. Demnach ging die Produktion im produzierenden Gewerbe im August um 4,3 Prozent gegenüber dem Vormonat zurück. In der Industrie allein – also ohne die Energieerzeugung und das Baugewerbe – belief sich der Rückgang gar auf rund 5,6 Prozent.[1] Zwar weisen Beobachter darauf hin, dass in diesem Jahr außergewöhnlich viele Kfz-Unternehmen ihren Betriebsurlaub auf den August gelegt haben, was die Produktion künstlich drosselt. Allerdings schrumpfte sie auch ohne den Kfz-Sektor um rund 2,5 Prozent; in der wichtigen Maschinenbaubranche brach sie sogar um 6,2 Prozent ein. Besserung ist nicht in Sicht. So schrumpfte im August auch der Auftragseingang gegenüber dem Vormonat um 0,8 Prozent; es war der vierte Monat mit jeweils weniger Aufträgen als im Monat zuvor. Als wichtige Ursache gelten die neuen US-Zölle, die allerlei Exporte unrentabel machen. Die Schwäche der Industrie trägt maßgeblich dazu bei, dass die Bundesregierung am Mittwoch ihre Wachstumsprognose für 2025 auf nur noch 0,2 Prozent senken musste. In den Vorjahren ging die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik zurück – 2023 um 0,3 sowie 2024 um 0,2 Prozent. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche kommentierte dies so: „Andere Volkswirtschaften wachsen.“[2]
Auf Schrumpfkurs
Die Bundesregierung reagiert mit Krisentreffen auf die Produktionsrückgänge. Am gestrigen Donnerstag etwa fand im Bundeskanzleramt ein „Autogipfel“ statt, auf dem Lösungen für die dramatische Lage der Kfz-Industrie gesucht wurden. Die Branche hat seit 2019 rund 112.000 Arbeitsstellen verloren, davon allein im vergangenen Jahr rund 51.500. Ein weiterer Abbau steht bevor: Volkswagen wird die Zahl seiner Arbeitsplätze um bis zu 35.000 reduzieren, Daimler um rund 5.000; auch die Zulieferer streichen kräftig – Bosch um 13.000, ZF um bis zu 7.600.[3] Ursache ist unter anderem der Übergang zur Elektromobilität, den die deutschen Kfz-Konzerne unzureichend organisiert haben und bei dem sie der chinesischen Konkurrenz weitaus unterlegen sind. Noch für Oktober kündigt das Bundeskanzleramt außerdem ein Krisentreffen mit Vertretern der Stahlindustrie an. Auch diese leidet unter Strukturproblemen, wird aber gleichfalls in besonderem Maß vom US-Zollkrieg getroffen: Stahlexporte in die USA werden nicht mit 15, sondern mit 50 Prozent verzollt. Deutschland, dessen Stahlkocher zuletzt mit rund 37 Millionen Tonnen Rohstahl pro Jahr mehr produzierten als Hersteller aus allen anderen Ländern der EU, wird davon hart getroffen. Vor der Verhängung der Zölle lieferte Deutschland rund eine Million Tonnen Stahl in die USA.
„So schwach wie 1991“
Unterdessen spitzt sich auch die Lage der deutschen Chemieindustrie immer weiter zu. Die Branche litt ganz besonders unter dem politisch gewollten Ausstieg aus dem Erwerb billigen russischen Pipelinegases und der Umstellung auf teures, vor allem aus den USA bezogenes Flüssiggas. Bereits 2022 lag die Chemieproduktion – die Pharmasparte nicht eingerechnet – um rund zehn Prozent unter derjenigen des Vorjahres.[4] Im Jahr 2023 ging sie erneut um elf Prozent zurück.[5] Aktuell kommt hinzu, dass die erheblich schrumpfende Nachfrage aus anderen Krisenbranchen, etwa aus der Kfz-Industrie, die Aufträge einbrechen lässt. Die Auslastung der Anlagen liege gegenwärtig bei 71 Prozent, heißt es aus Industriekreisen. Die Schwelle, die man erreichen müsse, um rentabel produzieren zu können, liege bei einer Auslastung von 82 Prozent.[6] Laut Angaben des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) lag die deutsche Chemieproduktion im zweiten Quartal 2025 um gut fünf Prozent unter dem Vorjahreswert. Inzwischen werden ganze Chemiewerke geschlossen; allein in diesem Jahr haben laut Berichten mittlerweile sechs Konzerne der Branche angekündigt, komplette Anlagen stillzulegen. Bisher seien dabei gut 2.000 Arbeitsplätze gestrichen worden, heißt es. Die Branche produziere „so schwach wie zuletzt 1991“.[7]
Null-Zölle für die US-Konkurrenz
Dabei drohen weitere Einbrüche. Zum einen steigen die Importe aus China beträchtlich – allein im ersten Halbjahr um rund 40 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, heißt es.[8] Unternehmen in China, darunter chinesische Ableger deutscher Chemiekonzerne, könnten etwa aufgrund günstigerer Energiepreise erheblich billiger produzieren. Es komme nun noch hinzu, dass die neuen US-Zölle chinesische Exporte in die Vereinigten Staaten erschweren; chinesische Unternehmen suchten deshalb nach neuen Absatzmärkten und drängten noch intensiver als vorher unter anderem in die EU. Dies geschehe zu einer Zeit, zu der deutsche Chemiekonzerne wegen des EU-Handelsdeals mit dem Vereinigten Staaten zusätzlich heftig unter Druck gerieten. Ursache ist demnach, dass die bisher für die Branche geltenden Zölle von 6,5 Prozent auf Importe aus den USA dem neuen Abkommen entsprechend auf Null gesenkt werden. Hätten die Zölle Europas Chemiemarkt bisher „bis zu einem gewissen Grad vor billigeren US-Produkten geschützt“, so könne die Aufhebung der Zölle nun „enorme Auswirkungen auf die Handelsströme“ haben, warnt etwa die Marktforschungsgruppe ICIS.[9] Berichten zufolge ist die Einfuhr von Chemieprodukten aus den Vereinigten Staaten in die EU bereits im ersten Halbjahr 2025 gestiegen; mit einem weiteren Wachstum wird gerechnet.
Gegen China
Inzwischen werden Forderungen nach gezielten EU-Schutzmaßnahmen für die im globalen Konkurrenzkampf unterlegene deutsche Chemiebranche laut. Die Forderungen richten sich dabei – jedenfalls öffentlich – nicht darauf, dem Handelsdeal der EU mit den USA eine Absage zu erteilen und die Zollfreiheit für US-Exporte bei gleichzeitiger starker Verzollung eigener Ausfuhren in Frage zu stellen. Sie zielen auch nicht auf eine Wiederaufnahme der Einfuhr kostengünstigen russischen Erdgases. Es gelte vielmehr, die Chemieeinfuhr aus China zu reduzieren, verlangt etwa der europäische Branchenverband Cefic.[10]
„Ein zollfreier transatlantischer Raum“
Dies entspricht Maßnahmen, die die EU-Kommission am Dienstag zum Schutz der EU-Stahlindustrie angekündigt hat. Demnach soll das Volumen des Stahls, das zollfrei in die EU eingeführt werden darf, um fast die Hälfte auf gut 18 Millionen Tonnen gesenkt werden.[11] Zugleich wird der Zoll auf darüber hinaus eingeführte Stahlmengen von 25 Prozent auf 50 Prozent verdoppelt. Ursache ist auch in diesem Fall, dass die US-Zölle Stahl nicht nur aus der EU, sondern auch aus zahlreichen anderen Ländern ausgrenzen und Stahlproduzenten etwa aus der Türkei oder aus China nach neuen Märkten suchen; dies aber erhöht den Exportdruck auf die EU. Man müsse die Stahlherstellung in der EU unbedingt stabilisieren, um die Rohstoffversorgung für die europäische Rüstungsindustrie zu sichern, heißt es dazu bei der EU. Allerdings will Brüssel es laut Angaben von EU-Diplomaten nicht dabei belassen. So sei geplant, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten einen „gemeinsamen zollfreien Raum für Stahlprodukte“ auszuhandeln, dem dann auch Großbritannien beitreten könne.[12] Damit hat die EU-Kommission eine Stabilisierung des transatlantischen Geschäfts bei gleichzeitiger Abwehr chinesischer Importe im Visier.
[1], [2] Julia Löhr, Patrick Welter: Kampf um den Wohlstand. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.10.2025.
[3] Franziska Müller: Stellenabbau spitzt sich zu: Das fordert die Autobranche jetzt von der Regierung. de.euronews.com 08.10.2025.
[4] S. dazu Die Kosten des Wirtschaftskriegs.
[5] Chemie und Pharma: Umsatz 2023 um 12 Prozent eingebrochen. wir-hier.de 07.02.2024.
[6], [7] Bert Fröndhoff: Deutsche Chemiebranche produziert so schwach wie zuletzt 1991. handelsblatt.com 03.09.2025.
[8], [9], [10] Bert Fröndhoff: Chemieexporte aus China verschärfen die Krise in Europa. handelsblatt.com 08.10.2025.
[11] EU-Kommission will Stahlbranche schützen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.10.2025.
[12] Olga Scheer, Jakob Hanke Vela: EU erhöht Einfuhrzoll für Stahl auf 50 Prozent. handelsblatt.com 06.10.2025.

ex.klusiv
Den Volltext zu diesem Informationsangebot finden Sie auf unseren ex.klusiv-Seiten - für unsere Förderer kostenlos.
Auf den ex.klusiv-Seiten von german-foreign-policy.com befinden sich unser Archiv und sämtliche Texte, die älter als 14 Tage sind. Das Archiv enthält rund 5.000 Artikel sowie Hintergrundberichte, Dokumente, Rezensionen und Interviews. Wir würden uns freuen, Ihnen diese Informationen zur Verfügung stellen zu können - für 7 Euro pro Monat. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.
Möchten Sie dieses Angebot nutzen? Dann klicken Sie hier:
Persönliches Förder-Abonnement (ex.klusiv)
Umgehend teilen wir Ihnen ein persönliches Passwort mit, das Ihnen die Nutzung unserer ex.klusiven Seiten garantiert. Vergessen Sie bitte nicht, uns Ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen.
Die Redaktion
P.S. Sollten Sie ihre Recherchen auf www.german-foreign-policy.com für eine Organisation oder eine Institution nutzen wollen, finden Sie die entsprechenden Abonnement-Angebote hier:
Förder-Abonnement Institutionen/Organisationen (ex.klusiv)