Teil der deutschen Produktionsketten (II)

Sorgen in Berlin vor Amtseinführung des neuen polnischen Präsidenten Nawrocki: Dieser ist für die Partei PiS gewählt worden, die deutschen Interessen weniger Rechnung trägt als die Bürgerplattform von Ministerpräsident Tusk.

WARSCHAU/BERLIN (Eigener Bericht) – Vor der Amtseinführung des neuen polnischen Präsidenten Karol Nawrocki werden in Berlin Sorgen über eine mögliche Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen laut. Nach den Parlamentswahlen im Oktober 2023 war in der Bundesrepublik wie auch in weiten Teilen der EU das Comeback des neoliberalen Pro-EU-Ministerpräsidenten Donald Tusk gefeiert worden. Allerdings kann Tusk wichtige Gesetzesvorhaben nicht durchsetzen und wird auch weiterhin kaum dazu in der Lage sein, da mit Nawrocki auch in Zukunt ein Parteigänger der Kaczyński-Partei PiS das Amt des Präsidenten ausüben wird und gegen ihm missliebige Pläne sein Veto einlegen kann. Die PiS und Tusks Bürgerplattform unterscheiden sich unter anderem in ihren Vorstellungen zur Entwicklung der EU, in ihrer Nähe zu den USA und in ihren regionalen Strategien. So orientiert die Bürgerplattform, deutschen Interessen entsprechend, auf eine immer tiefere EU-Integration, während die PiS einen Machtabbau bei den EU-Institutionen favorisiert. Auch die Regionalpolitik der PiS ist darauf angelegt, Gegengewichte gegen die deutsche Dominanz zu fördern. Von Nawrocki erwarten Beobachter stärkere Opposition zur Bundesrepublik.

Eine polarisierte Gesellschaft

Die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) um Ministerpräsident Donald Tusk sowie die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) um Jarosław Kaczyński werden von zwei gegensätzlichen Wählergruppen getragen. Diese unterscheiden sich etwa hinsichtlich ihrer Haltung zur europäischen Integration, in ihrer Verbundenheit mit der katholischen Kirche [1], in ihrem Verhältnis zu den Gewerkschaften oder auch im Hinblick auf die Klimapolitik. Zudem sind regionale Differenzen klar zu erkennen. Polen ist neben einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle auch von starker regionaler Ungleichheit geprägt. Auf der einen Seite steht der sich dynamisch entwickelnde Westen des Landes, auf der anderen Seite der wirtschaftlich stagnierende Osten. Die ungleiche Entwicklung spiegelt sich dauerhaft in den Wahlmustern wider. Die PO erhält in den wohlhabenderen westlichen Regionen und vor allem in Städten höhere Stimmanteile. Die PiS hingegen dominiert in den stagnierenden Gebieten, in denen der rechte Flügel der katholischen Kirche starken Einfluss hat; Kaczyński erklärte 2015, der jüngste PiS-Wahlsieg wäre ohne die Unterstützung des nationalkonservativen Senders Radio Maryja nicht möglich gewesen.[2] In Wahlkämpfen bedient sich die PO häufig einer sozialchauvinistischen Rhetorik gegenüber den oft ärmeren Wählern der PiS, die zuweilen als faul oder als Sozialleistungsempfänger diffamiert werden.[3]

EU-orientiert

Der Ausrichtung auf unterschiedliche Bevölkerungsteile entsprechen Unterschiede in der wirtschaftspolitischen Orientierung der PO und der PiS, die sich seit 2005 an der Macht abwechseln.[4] Die PO geht historisch auf eine kleine neoliberale Oppositionsfraktion in Gdańsk zurück, die die Führung der Solidarność kritisierte: Sie setze zu stark auf Demokratie und Gleichheit und stelle sich gegen eine rasche wirtschaftliche Transformation. Tusk erklärte Ende der 1980er Jahre sogar, er ziehe eine freie Marktwirtschaft ohne Demokratie einem Sozialismus mit freien Wahlen vor.[5] Ziel der PO war stets eine wirtschaftliche Entwicklung durch enge Kooperation mit der EU, finanziert vor allem durch EU-Mittel.[6] Noch heute betonen alle Parteien der von der PO gegründeten „Bürgerkoalition“ die Bedeutung der EU-Mitgliedschaft Polens. Die ausländische – vor allem deutsche – Durchdringung der Wirtschaft hat in Polen sowohl die Eliten als auch die Arbeiter polarisiert. Ausländische Unternehmen zahlen meist höhere Löhne und bieten mehr Sicherheit; zudem profitieren Teile der polnischen Eliten von der Entwicklung. Daraus entsteht die materielle Basis für jene Kräfte, die sich für eine enge Anbindung an die EU einsetzen.[7]

National orientiert

Ein anderer Teil der polnischen Bourgeoisie hingegen, der von der Anbindung an Europa nicht profitiert, sucht Schutz bei der nationalkonservativen PiS.[8] Diese intensivierte daher in den 2010er Jahren ihre Beziehungen zur Wirtschaft und baute über den früheren Banker Mateusz Morawiecki, der ab 2015 als Minister für wirtschaftliche Entwicklung, ab 2017 als Premierminister tätig war, gezielt ihre Kontakte zu polnischen Unternehmern aus. Zugleich setzte die PiS allerdings Reformen im Interesse ihrer Wählerbasis durch; Unternehmen wurden etwa verpflichtet, Beschäftigte in neue Altersvorsorgepläne aufzunehmen und mindestens 1,5 Prozent des Lohns dazu beizusteuern.[9] Als einer der engsten Verbündeten der PiS gilt die Gewerkschaft NSZZ Solidarność, Polens größter Gewerkschaftsverband. Eine gewerkschaftsinterne Umfrage ergab, dass 75 Prozent der Mitglieder sich programmatisch der PiS zugehörig fühlten. Seit 2005 wurden zahlreiche Solidarność-Funktionäre über die Wahllisten der PiS ins Parlament gewählt. Offiziell sprach die Gewerkschaft lange Zeit keine Wahlempfehlungen aus.[10] Dies hat sich jedoch offenbar geändert: Vor der Präsidentenwahl im Mai erklärte die Solidarność offiziell, sie unterstütze den PiS-Kandidaten Karol Nawrocki.[11] Nawrocki unterzeichnete im Gegenzug eine Erklärung, er werde Arbeiter und Familien schützen, der Klimapolitik der EU entgegentreten und christliche Werte wahren.

Gegengewichte

Neben der allgemeinen Zustimmung zur Einbindung in die EU spricht sich die PO auch klar für weitere Integrationsschritte aus – einschließlich des Beitritts zum Euro, den die Partei auch sicherheitspolitisch begründet.[12] Ohne den Euro werde Polen politisch an den Rand gedrängt, was Russlands Einfluss stärken könne, heißt es. Die PiS hingegen lehnt den Beitritt zum Euro ab; sie bezieht sich positiv auf Großbritannien während seiner Zeit als EU-Mitglied, das damals seine nationalen Interessen selbstbewusst vertreten habe. Entsprechend fordert die PiS ein intergouvernementales Modell der EU-Integration und einen Machtabbau bei den EU-Institutionen. Zugleich strebt sie die Bildung von Gegengewichten gegen die deutsche Dominanz durch regionale Bündnisse an.[13] Dies gilt nicht nur für die Visegrád-Zusammenarbeit mit Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Zusätzlich initiierte Polen unter der PiS-Regierung 2016 gemeinsam mit Kroatien die Drei-Meere-Initiative, die einen Zusammenschluss aller seit 2004 beigetretenen EU-Mitgliedstaaten darstellt und von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht.[14] Die Initiative wurde durch Donald Trumps Teilnahme an einem ihrer Gipfeltreffen symbolisch unterstützt.[15] Die PO wiederum orientiert stärker auf die nordeuropäischen EU-Mitgliedstaaten und sucht eine Kooperation mit der Gruppierung Nordic-Baltic Eight aufzubauen.[16]

Wirtschaftspolitische Neuausrichtung

2007 setzte sich die PO noch für weitere Privatisierungen ein. Ab 2010 änderte sich dies. Nach der Finanzkrise verfolgte Polen eine Strategie des „Wirtschaftspatriotismus“: Polnische Unternehmen – staatliche wie private – erhielten gezielte Förderung; ausländische Übernahmen wurden erschwert, der Marktanteil polnischer Banken wurde gesteigert. Seit 2008 gewinnen zudem Neuinvestitionen aus Ostasien an Bedeutung. Die Regierung unter Ministerpräsident Tusk startete 2010 das Programm „GoChina“, um chinesische Investoren zu gewinnen und die Expansion polnischer Unternehmen auf den chinesischen Markt zu fördern. Der erhoffte Erfolg blieb bislang jedoch aus.[17] Zur zentralen Figur der industriepolitischen Neuorientierung wurde dabei Mateusz Morawiecki, der – zuvor als Banker bei der Banco Santander tätig – 2010 in die Wirtschaftskommission des damaligen Ministerpräsidenten Tusk aufgenommen worden war, ab 2015 dann aber für die PiS in Regierungsfunktionen arbeitete. Sein „Morawiecki-Plan“ zielte auf Reindustrialisierung und Regionalförderung – insbesondere im strukturschwachen Osten. Dabei setzten die PiS-Regierungen weiterhin auf einen Dualismus polnischer und ausländischer Unternehmen: Sie versuchten, ausländisches Kapital aus dem Bankensektor, den Medien und dem Einzelhandel zurückzudrängen, subventionierten aber zugleich Investitionen in exportorientierte Industrien.[18] In Letzterem trifft sich ihr Interesse mit dem Expansionsinteresse der deutschen Industrie.

 

Mehr zum Thema: Teil der deutschen Produktionsketten.

 

[1] Podemski, Piotr (2023): Back to the Future. The Aftermath of Poland’s 2023 Parliamentary Election. In: Nuovi Autoritarismi e Democrazie: Diritto, Istituzioni, Società 5 (2), S. 171.

[2] Żuk, Piotr; Żuk, Paweł (2019): Dangerous Liaisons between the Catholic Church and State: the religious and political alliance of the nationalist right with the conservative Church in Poland. In: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe 27 (2-3), S. 8 fff.

[3] Ryzak, Cyryl (2020): The Law and Justice Party’s Moral Pseudo-Revolution. Hg. v. Dissent Magazin. Online verfügbar unter www.dissentmagazine.org, zuletzt aktualisiert am 03.08.2020.

[4] Winczewski, Damian (2023): The Collapse of the New Polish Left. In: Monthly Review Volume 75 (Number 7), 38 f.

[5] Rae, Gavin (2013): Avoiding the Economic Crisis: Pragmatic Liberalism and Divisions over Economic Policy in Poland. In: Europe-Asia Studies 65 (3), S. 412 f.

[6] Olechowski, Kamil (2016): Post-dependence discourse in the language of politicians of Prawo i Sprawiedliwość and Platforma Obywatelska. In: Social Communication 14 (2), S. 61 f.

[7] Olechowski, Kamil (2016): Post-dependence discourse in the language of politicians of Prawo i Sprawiedliwość and Platforma Obywatelska. In: Social Communication 14 (2), S. 61 f.

[8] Scheiring, Gábor (2021): Varieties of Dependency, Varieties of Populism: Neoliberalism and the Populist Countermovements in the Visegrád Four. In: Europe-Asia Studies 73 (9), S. 1575.

[9] Naczyk, Marek; Eihmanis, Edgars (2023): Populist party-producer group alliances and divergent developmentalist politics of minimum wages in Poland and Hungary. In: Competition & Change, S. 411 ff.

[10] Naczyk, Marek; Eihmanis, Edgars (2023): Populist party-producer group alliances and divergent developmentalist politics of minimum wages in Poland and Hungary. In: Competition & Change, S. 13.

[11] Poland’s Solidarity trade union endorses opposition presidential candidate. notesfrompoland.com 13.02.2025.

[12] Styczyńska, Natasza (2023): Conflict or Conciliation? The Polish elections of 2023 and their consequences for the EU. Swedish Institute for European Policy Studies (European Policy Analysis).

[13] Cianciara, Agnieszka K. (2014): Differentiated Integration and the Future of Europe. Debate in Poland. In: Yearbook of Polish European Studies (17), S.  184 f.

[14] S. dazu Osteuropas geostrategische Drift.

[15] Matthias Krupa: Trump umgarnt die Polen. zeit.de 02.07.2017.

[16] Damian Szacawa: Poland’s Northern Policy and Nordic-Baltic Cooperation. ies.lublin.pl 19.12.2024.

[17] Naczyk, Marek (2014): Budapest in Warsaw: Central European Business Elites and the Rise of Economic Patriotism Since the Crisis. In: SSRN Journal. Toplišek, Alen (2019): The Political Economy of Populist Rule in Post-Crisis Europe: Hungary and Poland. In: New Political Economy 25 (3), S. 9.

[18] Naczyk, Marek; Eihmanis, Edgars (2023): Populist party-producer group alliances and divergent developmentalist politics of minimum wages in Poland and Hungary. In: Competition & Change, S. 3.


Anmelden

ex.klusiv

Den Volltext zu diesem Informationsangebot finden Sie auf unseren ex.klusiv-Seiten - für unsere Förderer kostenlos.

Auf den ex.klusiv-Seiten von german-foreign-policy.com befinden sich unser Archiv und sämtliche Texte, die älter als 14 Tage sind. Das Archiv enthält rund 5.000 Artikel sowie Hintergrundberichte, Dokumente, Rezensionen und Interviews. Wir würden uns freuen, Ihnen diese Informationen zur Verfügung stellen zu können - für 7 Euro pro Monat. Das Abonnement ist jederzeit kündbar.

Möchten Sie dieses Angebot nutzen? Dann klicken Sie hier:
Persönliches Förder-Abonnement (ex.klusiv)

Umgehend teilen wir Ihnen ein persönliches Passwort mit, das Ihnen die Nutzung unserer ex.klusiven Seiten garantiert. Vergessen Sie bitte nicht, uns Ihre E-Mail-Adresse mitzuteilen.

Die Redaktion

P.S. Sollten Sie ihre Recherchen auf www.german-foreign-policy.com für eine Organisation oder eine Institution nutzen wollen, finden Sie die entsprechenden Abonnement-Angebote hier:
Förder-Abonnement Institutionen/Organisationen (ex.klusiv)