Deep Precision Strike

Bundesregierung bereitet vorläufige Beschaffung US-amerikanischer und langfristige Entwicklung europäischer Marschflugkörper vor. Letztere sollen militärische Unabhängigkeit von den USA sichern.

BERLIN/LONDON (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung bereitet die vorläufige Beschaffung weitreichender US-Marschflugkörper und die langfristige Entwicklung von den USA unabhängiger europäischer Marschflugkörper vor. Wie Verteidigungsminister Boris Pistorius in der vergangenen Woche bestätigte, ist Deutschland an einem Erwerb der mobilen Abschussplattform Typhon interessiert. Damit lassen sich Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit einer Reichweite von gut 2.000 Kilometern abfeuern. Typhon und Tomahawk werden von US-Konzernen hergestellt und sind bereits erhältlich. Zugleich treiben Berlin und London die Entwicklung eigener weitreichender Waffen (Deep Precision Strike, DPS) voran. Sie könnten in sieben bis zehn Jahren zur Verfügung stehen und als zentraler Baustein des European Long-Range Strike Approach (ELSA) dienen, eines Projekts, das von heute sieben EU-Staaten getragen wird und die europäischen Staaten bei Marschflugkörpern oder auch ballistischen Raketen von den USA unabhängig machen soll. Mit Blick auf ELSA haben auch französische Rüstungskonzerne erste Vorschläge für weitreichende Waffen vorgelegt. Damit zeichnet sich erneut harte innereuropäische Konkurrenz in der Rüstungsindustrie ab.

Deutschlands Raketenwerfer

Eine Beschaffung der mobilen Abschussplattform Typhon würde die Fähigkeiten der Bundeswehr erheblich erweitern. Zur Zeit verfügen die deutschen Streitkräfte unter anderem über den Raketenwerfer MARS II (Medium Artillery Rocket System II), eine in Europa genutzte Weiterentwicklung eines Abschusssystems des US-Konzerns Lockheed Martin. Die Reichweite des MARS II beträgt laut Angaben der Bundeswehr allerdings nur 84 Kilometer; das ist viel weniger, als Berlin es wünscht. Aktuell entwickelt Rheinmetall gemeinsam mit Lockheed Martin einen neuen Raketenwerfer mit der Bezeichnung GMARS (Global Mobile Artillery Rocket System), dessen Reichweite mehr als 400 Kilometer betragen soll; er soll laut Angaben von Lockheed Martin in Europa gefertigt werden und langfristig die MARS II-Raketenwerfer ersetzen.[1] Davon abgesehen verfügt Deutschland über den Taurus, einen Marschflugkörper, der Ziele in bis zu 500 Kilometern Entfernung treffen kann. Er muss aber von Kampfjets wie dem Tornado oder dem Eurofighter abgefeuert werden. Der Taurus ist dabei ein europäisches Modell. Er wird von MBDA Deutschland und Saab Bofors Dynamics gemeinsam hergestellt. Die Taurus Systems GmbH, in der sich die Firmen zusammengetan haben, hat ihren Sitz bei MBDA Deutschland – in Schrobenhausen nordwestlich von München.

2.000 Kilometer Reichweite

Die Typhon-Plattform, die die Bundesregierung nun erwerben will, wird gleichfalls von Lockheed Martin produziert. Sie basiert auf dem Senkrecht-Startsystem VLS Mk41, das auf den deutschen Fregatten der Brandenburg-Klasse (F123) und der Sachsen-Klasse (F-124) genutzt wird.[2] Bei Typhon handelt es sich um eine mobile Plattform, die für den Abschuss an Land entwickelt wurde. In ihrem Fall sind vier Senkrecht-Startzellen zu einer Einheit in der Größe eines Zwölf-Meter-Standardcontainers verbunden, die ohne weiteres per Lkw transportiert werden kann. Ergänzend wird ein Feuerleitstand benötigt. Das Typhon-System erlaubt es, weiterreichende Lenkflugkörper wie SM-6 oder Tomahawk abzufeuern. Die SM-6-Lenkrakete wird vom US-Konzern Raytheon (RTX) hergestellt und verfügt über eine Reichweite von offiziell rund 240 Kilometern; zuweilen werden auch größere Entfernungen von bis zu 460 Kilometern genannt.[3] Der Marschflugkörper Tomahawk wiederum verfügt über eine Reichweite von sogar rund 2.000 Kilometern. Erhielte die Bundesregierung eine Lieferzusage aus den Vereinigten Staaten für Typhon und Tomahawk, dann bekäme die Bundeswehr eine sogenannte Deep Precision Strike-Fähigkeit (DPS). Sie könnte dann Ziele in hohen Entfernungen treffen – nicht bloß in Moskau, sondern auch tief im russischen Hinterland.

Die Prioritäten der USA

Stimmt die Trump-Regierung der Typhon-Lieferung zu, dann enspricht diese der geplanten Ausstattung der 2nd Multi-Domain Task Force (MDTF) der US-Streitkräfte an deren Standort Wiesbaden mit identischen Waffensystemen. Vor rund einem Jahr kündigte die Biden-Administration an, im Jahr 2026 Typhon-Abschussplattformen, SM-6-Lenkraketen und Tomahawk-Marschflugkörper nach Deutschland verlegen zu wollen, darüber hinaus voraussichtlich auch noch neue Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle. Damit stünden in der Bundesrepublik in Zukunft dieselben US-Waffensysteme sowohl in den US-Streitkräften als auch in der Bundeswehr für etwaige Operationen gegen Russland zur Verfügung. Noch ist jedoch nicht abschließend entschieden, ob die Trump-Administration an dem Beschluss ihrer Vorgängerregierung festhalten wird. Hintergrund ist neben den abweichenden strategischen Plänen von US-Präsident Donald Trump, dass die USA inzwischen begonnen haben, Typhon-Abschussplattformen auf die Philippinen zu verlegen. Die 3rd Multi-Domain Task Force, die – 2022 gegründet – ihr Hauptquartier in Fort Shafter in Honolulu (Hawaii) hat und die für US-Operationen in der Asien-Pazifik-Region zuständig ist, bereitet die Verlegung einer zweiten Typhon-Batterie dorthin vor.[4] Die Philippinen sind dabei, sich in Zusammenarbeit mit den USA gegen China hochzurüsten.[5] Für Washington könnte dies Priorität haben.

Europäische Pläne

Unabhängig vom etwaigen Kauf der Typhon-Abschussplattform durch die Bundesrepublik haben mittlerweile die Arbeiten an europäischen Raketen respektive Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 2.000 Kilometern oder mehr begonnen. Im Juli 2024 taten sich dazu Deutschland, Frankreich, Italien und Polen im Projekt European Long-Range Strike Approach (ELSA) zusammen. Im Oktober 2024 traten Schweden und Großbritannien dem Projekt bei, im November 2024 die Niederlande. Offiziell steht nicht fest, ob im Rahmen von ELSA boden-, luft- oder seegestützte Waffen entwickelt werden und ob es ballistische Raketen oder Marschflugkörper sein sollen. Laut Experten deutet einiges auf landgestützte Marschflugkörper hin. Das wird durch Äußerungen des schwedischen Verteidigungsminister Pål Jonson bestätigt.[6] Im November hieß es in einer Studie des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London, in diesem Falle dürfe sich der Lenkflugkörperspezialist MBDA France gute Chancen ausrechnen, die Federführung zu übernehmen. Die Firma stelle mit der Missile de Croisière Naval (MdCN) einen seegestützten Marschflugkörper her, aus dem sich eine landgestützte Variante entwickeln lasse. Auch Lockheed Martin habe recht erfolgreich seegestützte in landgestützte Systeme wie etwa Typhon transformiert.[7]

Innereuropäische Konkurrenz

Die Debatte und die Arbeiten an ersten Projekten schreiten voran. Mitte Juni stellte die in Frankreich ansässige ArianeGroup, ein Joint Venture aus Airbus und dem französischen Unternehmen Safran, auf der Paris Air Show die ersten Modelle für eine ballistische Rakete mit der Bezeichnung Missile balistique terrestre (MBT) vor. Die Rakete könne im Rahmen von ELSA zum Zuge kommen, heißt es – insbesondere dann, wenn die Landvariante der MdCN sich als unzureichend erweise. Dies sei denkbar, heißt es weiter, da die MdCN eine Reichweite von wohl deutlich weniger als 2.000 Kilometern habe und zudem unterhalb der Schallgeschwindigkeit fliege; bodengestützte Raketen dieser Art hätten sich im Ukraine-Krieg als relativ leicht abzufangen erwiesen.[8] Einen weiteren Vorstoß haben mittlerweile Deutschland und Großbritannien unternommen. Ihre Verteidigungsminister, Boris Pistorius und John Healy, teilten nach einem Treffen Mitte Mai mit, ihre beiden Länder hätten inzwischen die ersten Schritte hin zur Entwicklung einer sogenannten Deep Precision Strike-Fähigkeit unternommen; diese solle perspektivisch im Rahmen von ELSA produziert werden.[9] Damit zeichnet sich eine scharfe Konkurrenz zwischen einem deutsch-britischen und zwei französischen Projekten ab. Das Vorhaben ist mit erheblichen Profiten sowie mit wichtigen technologischen Entwicklungschancen verbunden.

Ein Element militärischer Unabhängigkeit

Das IISS weist darauf hin, dass die Staaten Europas in der Vergangenheit zwar eine ganze Reihe ehrgeiziger Rüstungsprojekte entwickelt haben, dass nicht wenige von ihnen aber nicht verwirklicht wurden – „aufgrund unvereinbarer technischer oder industrieller Differenzen“. Bei denjenigen Rüstungsprojekten, die fertiggestellt worden seien, könne man regelmäßig „Ineffizienzen, Verzögerungen und verringerte Produktionsaufträge“ beobachten.[10] Von der Frage, ob ELSA – anders als so manche andere europäischen Projekte – zum Erfolg geführt werden kann, hängt ein Teil der erstrebten militärischen Unabhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten ab.

 

[1] Modern Precision, Trusted Legacy: The Launchers Shaping 21st Century Security. lockheedmartin.com 16.07.2025.

[2] Bundeswehr an US-System Typhon interessiert. bundeswehr.de 17.07.2025.

[3] Doug Richardson: Trident II and Standard Missile 6 set Landmarks in Missile Performance. euro-sd.com 22.06.2023.

[4] Germany plans to acquire US Typhon missile systems to strengthen defense against Russian missiles. armyrecognition.com 16.07.2025.

[5] S. dazu Von der Kuba- zur Philippinenkrise.

[6], [7] Timothy Wright: Europe’s missile renaissance. iiss.org 25.11.2024.

[8] Zuzanna Gwadera: A French medium-range ballistic missile and ‘very high altitude’ ambitions. iiss.org 21.07.2025.

[9] Florian Manthey: Deutschland und Großbritannien: Militärkooperation im neuen Format. bmvg.de 15.05.2025.

[10] Timothy Wright: Europe’s missile renaissance. iiss.org 25.11.2024.


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