Piraterie in der Ostsee (II)

Die NATO-Ostseeanrainer verschärfen ihre Attacken auf missliebige russische Erdöltanker („Schattenflotte“) und brechen dabei geltendes internationales Recht. Deutschland exerziert Präzedenzfall durch. Russland beginnt sich zu wehren.

BERLIN/TALLINN/KOPENHAGEN (Eigener Bericht) – Rechtswidrige Operationen der Bundesrepublik und weiterer NATO-Ostseeanrainer gegen missliebige russische Erdöltanker („Schattenflotte“) drohen zu einer Eskalation der Spannungen in der Ostsee zu führen. Seit einem NATO-Ostseegipfel im Januar sind mehrere Anrainerstaaten, auch Deutschland, bestrebt, Rechtfertigungen dafür zu finden, aus russischen Häfen kommende Tankschiffe festzusetzen und sie nach Möglichkeit zu beschlagnahmen. Berlin testet einen solchen Fall zur Zeit aus: Es hat einen Tanker mit russischem Öl im Januar festgesetzt und im März beschlagnahmt. Weil der Eigentümer dagegen geklagt hat, ist der Fall nun Gegenstand eines Gerichtsverfahrens. Andere NATO-Ostseeanrainer gehen gleichfalls gegen die russische „Schattenflotte“ vor – und tun dies regelmäßig in einem Seegebiet zwischen zwölf und 200 Seemeilen vor ihren Küsten („Ausschließliche Wirtschaftszone“, AWZ) –, in dem Zugriffe auf fremde Schiffe nicht erlaubt sind; sie kommen einem Akt der Piraterie gleich. Russland beginnt sich zur Wehr zu setzen und droht, für die friedliche Durchfahrt seiner Schiffe zu kämpfen. Ein Minister eines NATO-Staats äußert, man habe „ein Problem mit dem Recht“.

Das Recht auf friedliche Durchfahrt

Entscheidend für die Beurteilung des Vorgehens der NATO-Ostseeanrainer gegen Schiffe der sogenannten russischen Schattenflotte ist zunächst die völkerrechtliche Lage. Dabei ist „eines der Grundprinzipien“ des UN-Seerechtsübereinkommens, wie die Direktorin des Instituts für Energie-, Umwelt- und Seerecht (IfEUS) an der Universität Greifswald, Sabine Schlacke, in der vergangenen Woche auf einem Fachportal erläuterte, „die Freiheit der friedlichen Durchfahrt von Schiffen auf Meeren und Ozeanen“. „Die Kontrolle von Schiffen“, stellt Schlacke fest, „obliegt primär dem Flaggenstaat“. Die EU dagegen hat „im Grundsatz kein Zugriffsrecht auf unter fremder Flagge fahrende Schiffe“, wenn sie „die Ostsee passieren“.[1] Das gilt im Kern sogar in den Hoheitsgewässern, die bis zwölf Seemeilen vor die Küste reichen. Dort dürfe gegen Straftaten vorgegangen werden, konstatiert die IfEU-Direktorin. Ob Eingriffe erlaubt seien, „wenn ein Schiff aufgrund seines schlechten Zustands nur abstrakt die Umwelt gefährde“, sei zumindest zweifelhaft. In der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) bis zu 200 Seemeilen vor der Küste gebe es so gut wie keine Eingriffsrechte. Anrainer dürften dort Windenergie erzeugen oder Fischfang treiben, jedoch nicht einmal „Spionage oder die Zerstörung von Unterseekabeln“ verfolgen.

Eskalation in der Grauzone

Seit einem Gipfeltreffen, das sie am 14. Januar in Helsinki abgehalten haben [2], sind die NATO-Ostseeanrainer erkennbar bestrebt, mit ihrem Vorgehen gegen russische Schiffe in der Ostsee die seerechtlichen Grenzen auszutesten. Dabei werden diese Grenzen offenbar gezielt überschritten. Ein Beispiel bietet der Umgang der deutschen Behörden mit dem Öltanker Eventin, der im Januar manövrierunfähig auf der Ostsee trieb und dann von einem deutschen Schlepper vor die Küste von Rügen gezogen wurde. Dort wurde er repariert, erhielt aber keine Ausfahrerlaubnis: Er hat 100.000 Tonnen russischen Erdöls geladen, die aufgrund der Sanktionen der EU nicht nach Deutschland importiert werden dürfen; Berlin wertet das Abschleppen des Schiffes vor die deutsche Küste als illegale Einfuhr. Ende März wurde der Öltanker wegen Verstoßes gegen die Sanktionen beschlagnahmt und sogleich zum deutschen Eigentum deklariert.[3] Der Eigentümer des Schiffes klagt nun dagegen. Das Vorgehen der deutschen Behörden wird von Experten als zumindest fragwürdig eingestuft. Es bewege sich „im Graubereich des internationalen Seerechts“, urteilt IfEUS-Direktorin Schlacke.[4] Die Maßnahme sei eine „erhebliche Eskalation“, erklärte im März Sascha Lohmann, ein Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).[5] Es sei „überraschend“, äußerte Lohmann, „dass die Bundesregierung das Risiko eingeh[e]“, auf Grundlage einer „nicht ganz klare[n] Rechtslage“ zu handeln.

„Ein Problem mit dem Recht“

Während der Rechtsstreit um den Öltanker Eventin andauert, sind einige Experten sichtlich bestrebt, die Eingriffsrechte der Küstenstaaten explizit auszuweiten. Im Anschluss an das Gipfeltreffen der NATO-Ostseeanrainer am 14. Januar hatte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz mitgeteilt, man wolle nicht nur „die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten“ eruieren, die aktuell bestünden, um „gegen Schiffe vorgehen zu können“, von denen man „befürchte“, sie könnten Umweltschäden verursachen; dies wird der „Schattenflotte“ unterstellt.[6] Scholz bestätigte auch, man wolle „gegebenenfalls zusätzliche Möglichkeiten im Rahmen der EU und der nationalen Gesetzgebung schaffen“, damit man in Zukunft jederzeit „handeln könne“. Zum Sachverhalt erklärte auf einem Treffen des Ostseerats Mitte Mai Estlands Außenminister Margus Tsahkna: „Wir haben keine Probleme mit den Reaktionsfähigkeiten und den Kapazitäten“ der NATO-Marinen bei Eingriffen gegen die „Schattenflotte“, „wir haben ein Problem mit dem Internationalen Recht.“[7] Bereits im Januar hatte im Hinblick darauf ein Experte der Kölner Beratungsgesellschaft Nexmaris verlangt, den „Umweltschutz“ als Rechtsgrund für Maßnahmen gegen die „Schattenflotte“ zu werten: Deren Schiffe müssten bereits in der AWZ „genau untersucht, bei begründetem Verdacht für Verstöße an der Durchfahrt gehindert und festgesetzt werden“ dürfen.[8]

Gleiches Recht für alle

Die Debatte dauert an. Dabei setzen sich Befürworter eines aggressiveren Vorgehens gegen russische Schiffe darüber hinweg, dass das internationale Recht nicht in einem Alleingang der NATO-Staaten geändert werden kann; wer eigenmächtige Neuinterpretationen vornimmt, muss damit rechnen, dass die davon betroffenen Staaten sich zur Wehr setzen, gegebenenfalls auch unter Rückgriff auf Gewalt. Ignoriert wird außerdem, dass Recht für alle gilt. Nimmt man sich heraus, mit eigenwilligen Neuinterpretationen des Seerechts Zugriff auf russische Schiffe zu rechtfertigen, dann wird man damit rechnen müssen, dass dies auch andere Staaten tun. So könnte Iran unter ähnlichen Vorwänden Öltanker stoppen, die die Straße von Hormuz passieren. China könnte Handelsschiffe im Südchinesischen Meer festsetzen; die Türkei wäre berechtigt, missliebige Handelsschiffe im Mittelmeer anzuhalten. Es käme lediglich darauf an, einen passenden Grund zur Legitimation zu finden.

Russlands Reaktion

Inzwischen eskaliert die Lage weiter. Am 11. April nötigte Estlands Marine einen Öltanker auf dem Weg nach Russland, die estnische AWZ zu verlassen und in die Hoheitsgewässer des Landes einzufahren. Dort setzte sie das Schiff fest und ließ es erst nach über zwei Wochen frei.[9] Das Ziel eines solchen Vorgehens hatte bereits Anfang Februar der Bundesvorsitzende der Partei Die Linke, Jan van Aken, gelobt: „Das jubelt die Transportkosten so an die Decke, dass sich dieser Ölhandel nicht mehr lohnt. Putins Kriegskasse wird richtig geleert.“[10] Am 13. Mai versuchten Schiffe der estnischen Marine erneut, einen russischen „Schattenflotten“-Tanker in der estnischen AWZ aufzuhalten – ein offener Verstoß gegen die dort geltende Freiheit der Seefahrt –, als Russland scharf reagierte und einen Kampfjet vom Typ Sukhoi Su-35 den Tanker überfliegen ließ: eine offene Geste, die Verletzung des Rechts der freien Seefahrt für Schiffe auf dem Weg aus und nach Russland nicht mehr zu dulden.[11] Wenig später setzte Russland einen griechischen Öltanker, der auf dem Weg aus dem estnischen Hafen Sillamäe in Richtung Norden war und dabei russische Hoheitsgewässer kreuzte, für mehrere Tage fest.[12] Die Eskalation, von den NATO-Ostseeanrainern mutwillig angestoßen, setzt sich damit fort und spitzt sich gefährlich zu.

Vor der Konfrontation

Dabei eskalieren die NATO-Ostseeanrainer weiter. Schweden hat am 1. Juni begonnen, die Inspektionen ausländischer Schiffe in der Ostsee auszuweiten.[13] Finnland hat vergangene Woche ebenfalls angekündigt, seine Kontrollen ausländischer Schiffe zu verstärken.[14] Dänemarks Außenminister Lars Løkke Rasmussen wiederum hatte schon Ende Mai erklärt, man müsse rechtliche Möglichkeiten zur Beschlagnahe von Schiffen der „Schattenflotte“ prüfen.[15] Dies entspricht dem, was die Bundesregierung am Exempel des Erdöltankers Eventin bereits tut. Russlands Botschafter in Dänemark, Wladimir Barbin, warnte, die jetzt diskutierten Maßnahmen seien offen völkerrechtswidrig, führten zu einer „unkontrollierten Entwicklung“ der Lage in der Ostsee und mündeten unter Umständen in eine „direkte Konfrontation“.

 

Mehr zum Thema: Die Ostsee-Wache und Piraterie in der Ostsee.

 

[1] Sabine Schlacke: Rechte der Küstenstaaten sind begrenzt. lto.de 06.06.2025.

[2] S. dazu Piraterie in der Ostsee.

[3] Beschlagnahmung bestätigt: „Eventin“ jetzt deutsches Eigentum. ndr.de 28.03.2025.

[4] Sabine Schlacke: Rechte der Küstenstaaten sind begrenzt. lto.de 06.06.2025.

[5] Henning Strüber, Martin Möller: „Eventin” vor Rügen beschlagnahmt: Experte sieht „erhebliche Eskalation“. ndr.de 29.03.205.

[6] Pressestatement von Bundeskanzler Scholz im Anschluss an den Gipfel der NATO-Ostseeanrainer am 14. Januar 2025 in Helsinki.

[7] Ostseerat will neue Regeln gegen Russlands Schattenflotte. handelsblatt.com 16.05.2025.

[8] Henning Strüber, Martin Möller: Schattenflotte und Seerecht: Was Ostseestaaten tun (können) – und was nicht. ndr.de 20.01.2025.

[9] Russian ‘shadow fleet‘ tanker Kiwala cleared to leave Estonian waters. news.err.ee 26.04.2025.

[10] Linke will mehr Druck auf Putins Schattenflotte. msn.com 01.02.2025.

[11] EDF Headquarters chief: Estonia had no plans to board ‘shadow fleet’ vessel. news.err.ee 15.05.2025. Elisabeth Gosselin-Malo: Estonia-Russia ship standoff portends a harsher tone on the Baltic Sea. defensenews.com 20.05.2025.

[12] Veronika Uibo: Russian authorities release Green Admire tanker seized after leaving Sillamäe. news.err.ee 19.05.2025.

[13] Theodoros Benakis: Sweden increased inspections to counter Russian shadow fleet in the Baltic Sea. europeaninterest.eu 02.06.2025.

[14] Finland takes on Putin’s shadow fleet. msn.com 07.06.2025.

[15] Katerina Alexandridi: Schattenflotte: Dänemark will Schiffe beschlagnahmen – Russland warnt vor Konfrontation. berliner-zeitung.de 31.05.2025.


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