Die ultrarechte Renaissance des Westens
Im Europaparlament zeichnet sich eine weitere Intensivierung der Kooperation mit der extremen Rechten ab, während Merz die Debatte in Deutschland nach rechts treibt – und die AfD sich mit Blick auf Trump etabliert transatlantisch gibt.
BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Im Europaparlament zeichnet sich eine weitere Intensivierung der Kooperation zwischen der konservativen EVP und den Fraktionen der äußersten Rechten ab. Auslöser ist, dass in der vergangenen Woche die von der EVP geplante Abschwächung der Lieferkettenrichtlinie gescheitert ist, vermutlich an Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion. Das sei „inakzeptabel“, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz auf dem EU-Gipfel geäußert: „Das kann so nicht bleiben“. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (EVP) hatte daraufhin eine erneute Abstimmung mit einer alternativen Mehrheit in Aussicht gestellt. Dies bezieht sich auf eine Mehrheit der EVP mit den ultrarechten Fraktionen der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) sowie der Patrioten für Europa (PfE). Der Schritt erfolgt, während in Deutschland in der CDU Forderungen lauter werden, mit der AfD auf die eine oder andere Weise zu kooperieren, und Bundeskanzler Friedrich Merz mit Verbalattacken auf Migranten, die angeblich im „Stadtbild“ störten, die öffentliche Debatte nach rechts treibt. Zugleich gibt sich die AfD-Bundestagsfraktion kompromissbereit und spricht sich für transatlantische Kooperation aus – mit der Trump-Administration.
„Inakzeptabel“
Ausgangspunkt für die aktuelle Debatte um eine weitere Etablierung ultrarechter Mehrheiten im Europaparlament war, dass das Parlament am Mittwoch vergangener Woche eine deutliche Abschwächung der Lieferkettenrichtlinie abgelehnt hatte. Die Richtlinie sollte demnach nur noch für Unternehmen mit mindestens 5.000 Mitarbeitern sowie einem Jahresumsatz von mindestens 1,5 Milliarden Euro gelten. Damit müssten nur zehn Prozent der ursprünglich von ihr betroffenen Firmen sie einhalten.[1] Die Parlamentsspitze hatte die Abschwächung unter Rückgriff auf die Stimmen der Konservativen, der Liberalen sowie der Sozialdemokraten durchsetzen wollen, scheiterte damit letztlich aber, da einige Abgeordnete sich dem Vorhaben in der geheim durchgeführten Abstimmung verweigerten. Insbesondere konservative Politiker reagierten mit heftiger Kritik. Bundeskanzler Friedrich Merz etwa warf dem Parlament eine „fatale Fehlentscheidung“ vor, nannte das Resultat der Abstimmung „inakzeptabel“ und fügte hinzu: „Das kann so nicht bleiben“.[2] Man darf den Vorgang als Beleg für die tatsächliche Bedeutung des Europaparlaments und seiner demokratisch gefällten Entscheidungen nehmen: Auf Forderung unter anderem von Merz wird die Abstimmung im November wiederholt.
Die „Venezuela-Mehrheit“
Parlamentspräsidentin Roberta Metsola von der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) hatte bereits beim EU-Gipfel am vergangenen Donnerstag darauf hingewiesen, eine sichere Mehrheit für die Abschwächung der Lieferkettenrichtlinie sei wohl nur mit einer anderen Parteienkonstellation zu erreichen. Dabei handelt es sich um eine Kooperation der EVP mit den ultrarechten Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) und eventuell auch noch mit den Patrioten für Europa (PfE) um den französischen Rassemblement National (RN). Diese Parteienkonstellation hat bereits mehreren Parlamentsvorlagen zu einer Mehrheit verholfen, unter anderem, als das Europaparlament es sich im September 2024 anmaßte, den Verlierer der Parlamentswahl in Venezuela vom Juli 2024 zum Sieger zu erklären. Seither wird eine Mehrheit von EVP, EKR und PfE von Insidern „Venezuela-Mehrheit“ genannt.[3] Wie Metsola erklärte, habe sie auf dem EU-Gipfel die klare „Botschaft“ erhalten, sie solle sich die Mehrheit für die Abschwächung der Lieferkettenrichtlinie dort zusammensuchen, wo immer „du sie finden kannst“.[4] Sie habe in ihrem Amt die „institutionelle Verantwortung“ dafür, arbeitfähige Mehrheiten zu garantieren, äußerte Metsola; dies werde sie nun auch tun.
Beschlüsse mit AfD-Stimmen
Die weitere Öffnung des Europaparlaments für Mehrheiten unter Einschluss der äußersten Rechten geht mit einer stark anschwellenden Debatte über eine entsprechende Öffnung auch im Bundestag einher. So ist zwar in der CDU ein Unvereinbarkeitsbeschluss aus dem Jahr 2018 weiterhin in Kraft, in dem es heißt, die Partei lehne „Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit“ mit der AfD ab. Zuletzt wurden jedoch immer mehr Stimmen laut, die eine Abkehr von dieser Praxis fordern. So verlangte etwa Ex-CDU-Generalsekretär Peter Tauber, es zu erlauben, „Beschlüsse zu fassen, denen die AfD zustimmt“; es dürfe nicht „bei jedem Beschluss, der mit den Stimmen der AfD zustande kommt“, gleich „die Nazikeule geschwungen“ werden.[5] Der Ex-Leiter der CDU-Grundwertekommission Andreas Rödder sprach sich für „konditionierte Gesprächsbereitschaft“ aus, sofern die AfD „rote Linien“ einhalte und „sich klar von rechtsextremen Positionen und Figuren“ abgrenze.[6] Mehrere führende CDU-Politiker in Ostdeutschland raten –wie etwa der Vorsitzende der sächsischen CDU-Landtagsfraktion, Christian Hartmann – zu einer Bildung eigener Positionen „jenseits von allen Brandmauer-Debatten“.[7] Auch auf Bundesebene halte schon heute „mancher Christdemokrat nicht viel von der Brandmauer“, berichtet ein Insider.[8]
Stadtbild und Arbeitsmarkt
In dieser Situation treibt Bundeskanzler Friedrich Merz die Öffnung nicht nur seiner Partei, sondern der öffentlichen Debatte in Deutschland für klassisch rassistische Positionen der AfD voran. Am 14. Oktober hatte er im Hinblick auf Migranten behauptet, es gebe „im Stadtbild noch dieses Problem“, weshalb man jetzt dabei sei, „in sehr großem Umfang“ Abschiebungen zu planen.[9] Am 20. Oktober erklärte er auf die Nachfrage, was er konkret meine: „Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte.“[10] Am 22. Oktober schränkte der Kanzler nach Protest aus Wirtschaftskreisen ein, er nehme Migranten, deren Arbeitskraft Deutschland brauche, von seiner Denunziation aus; auf Menschen mit Migrationshintergrund, die „unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes“ seien, könne man „gar nicht mehr verzichten, ganz gleich, wo sie herkommen, welcher Hautfarbe sie sind“.[11] Schon zuvor hatte Merz in einem am 19. Oktober publizierten Interview erklärt, er lehne zwar aktuell jede Kooperation mit der AfD ab; doch dürfe man Themen nicht meiden, „nur weil die AfD“ dann „möglicherweise zustimmt“. „Genau in diese Abhängigkeit darf die CDU nie geraten“, hielt Merz unter Bezug auf Bundestagsmehrheiten, die mit der Zustimmung der AfD möglich werden, fest.[12]
Brandmauerkompatibel
Öffnet die CDU sich und die öffentliche Debatte damit für Positionen der AfD, so signalisiert diese ihrerseits, in entscheidenden Fragen anpassungs- bzw. regierungsfähig zu sein. So hat die AfD-Bundestagsfraktion laut einem Bericht Anträge vorbereitet, die sie ins Parlament einbringen will und in denen sie einen „Neubeginn in den deutsch-amerikanischen Beziehungen“ verlangt – auf der Grundlage politischer Positionen der Trump-Administration. Darin heißt es in einer partiellen Abkehr von der bisher als prorussisch wahrgenommenen Haltung der AfD, die transatlantischen Beziehungen seien „ein Eckstein deutscher Sicherheit und Wohlfahrt“; zu einer „Einbettung in die NATO“ gebe es „derzeit keine ernsthafte Alternative“.[13] Damit räumt die Fraktion ein entscheidendes Hindernis für die Kooperation mit den Unionsparteien aus: Der heutige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, hatte im Mai 2024 die „Brandmauer“ neu definiert und geäußert, „potenzielle Partner“ der EVP und damit auch der CDU auf der äußersten Rechten müssten „pro-europäisch, pro-NATO, pro-Rechtsstaat und pro-Ukraine sein“.[14] Die stellvertretende Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Beatrix von Storch, rechtfertigt die transatlantische Wende ihrer Fraktion mit einem billigenden Hinweis auf die repressive Innenpolitik der Trump-Administration; mit Blick auf deren brutales Vorgehen gegen Migranten, Linke und andere Kritiker bei paralleler Unterstützung für Aktivisten der extremen US-Rechten äußert sie zustimmend: „Präsident Trump arbeitet an einer Renaissance des Westens“.
[1] Leila van Rinsum: Erpressung gescheitert. taz.de 22.10.2025.
[2] Merz kritisiert Europaparlament scharf. handelsblatt.com 23.10.2025.
[3] S. dazu Die Brandmauer bricht und Die Integration der extremen Rechten.
[4] Max Griera, Marianne Gros: Europe’s centrists may have to work with the far right to get things done, warns European Parliament chief. politico.eu 23.10.2025.
[5] Ex-Unionspolitiker raten zu Öffnung gegenüber AfD – und stoßen auf Widerspruch. stern.de 15.10.2025.
[6] Einzelne Unionspolitiker fordern Abkehr von Brandmauer. tagesschau.de 15.10.2025.
[7] Brandmauer-Debatte in der Union brodelt weiter. tagesschau.de 17.10.2025.
[8] Eckart Lohse: Die AfD als Hauptgegner der CDU, „wahrscheinlich“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.10.2025.
[9] Merz für neues „Stadtbild“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.10.2025.
[10] Merz zu umstrittener „Stadtbild“-Äußerung: „Ich habe gar nichts zurückzunehmen“. stern.de 20.10.2025.
[11] Migranten sind „unverzichtbarer Bestandteil“. tagesschau.de 22.10.2025.
[12] Jochen Buchsteiner, Eckart Lohse: „Wie früher – das gibt es nicht wieder“. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 19.10.2025.
[13] Friederike Haupt: Mehr Trump wagen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.10.2025.
[14] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts (III).
