Russisches Staatsvermögen im Visier

Berlin lässt eine zunehmende Bereitschaft erkennen, auf russisches Staatsvermögen zuzugreifen, das in der EU angelegt ist. Anlass ist der Wunsch, die Verlängerung des Krieges zu finanzieren, ohne selbst zu zahlen.

BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Berlin signalisiert eine zunehmende Bereitschaft, den Zugriff auf in der EU angelegtes russisches Staatsvermögen freizugeben und daraus die künftige Aufrüstung der Ukraine zu finanzieren. Werden bislang lediglich die Zinserträge aus den wohl rund 260 Milliarden Euro in der EU eingefrorener russischer Gelder abgeschöpft, so könne man in Zukunft die Mittel selbst – im Vorgriff auf mögliche russische Reparationen für die Ukraine – als „Reparationsdarlehen“ nach Kiew überweisen, schlug vergangene Woche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor. Am Wochenende erklärte dazu Günter Sautter, außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Friedrich Merz, die Debatte in der EU bewege sich „in die richtige Richtung“. Eine Vorlage dazu hatte bereits im Frühjahr Ex-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit der Skizze eines denkbaren Vorgehens geliefert. Bislang hatte Berlin eine Beschlagnahmung russischer Gelder abgelehnt: Sie könnte den Weg für eine Beschlagnahmung deutschen Vermögens als Reparation für NS-Verwüstungen bahnen. Der Zugriff auf russisches Geld soll eineVerlängerung des Ukraine-Kriegs möglich machen, die die Bevölkerung des Landes mehrheitlich ablehnt.

„Einen Abnutzungskrieg überstehen“

Ex-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, der Reuters-Journalist Hugo Dixon und der Jura-Professor Lee Buchheit gehen in einem Beitrag für die Fachzeitschrift Internationale Politik davon aus, es werde „noch Monate oder Jahre dauern“, bis ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen im Ukraine-Krieg erzielt werden könne.[1] Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Deutschland, Frankreich und Großbritannien unverändert darauf bestehen, nach Kriegsende Truppen in die Ukraine zu entsenden oder das Land anderweitig eng an die NATO zu binden (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Das ist für Russland eine bekannte rote Linie. Da ein Waffenstillstand noch weit entfernt sei, sei es „unerlässlich, dass die Ukraine über genug Geld verfügt, um einen Abnutzungskrieg zu überstehen“, heißt es weiter in der Internationalen Politik.

Soldatenmangel

Nicht näher thematisiert wird in dem Beitrag in der Internationalen Politik, dass sich mittlerweile eine überwiegende Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung klar dafür ausspricht, den Krieg so schnell wie möglich auf dem Verhandlungswege zu beenden. Dafür plädieren laut einer aktuellen Gallup-Umfrage 69 Prozent aller Ukrainer, während nur noch 24 Prozent dafür sind, den Krieg bis zum erhofften Sieg über Russland fortzusetzen.[3] Gleichfalls keine Erwähnung findet die Tatsache, dass die ukrainischen Streitkräfte an dramatischem Mangel an Soldaten leiden. Nach einem Bericht der Warschauer Denkfabrik OSW (Ośrodek Studiów Wschodnich, Zentrum für Oststudien) fehlen den ukrainischen Streitkräften an der Front gegenwärtig gut 300.000 Soldaten – deutlich mehr als die 200.000, die sie im vergangenen Jahr rekrutieren konnten. Manche Einheiten verfügen über nur noch rund 30 Prozent der vorgesehenen Personalstärke. Zuweilen müsse ein Dutzend Soldaten Frontabschnitte von gut fünf bis zehn Kilometern Länge verteidigen.[4] Als eine Ursache gilt die überaus hohe Zahl an Desertionen, die offiziell mit mehreren Zehntausend angegeben werden. Sie seien eine Folge nicht zuletzt der Zwangsrekrutierung, bei der Männer gewaltsam aufgegriffen und zum Kriegsdienst verschleppt werden, heißt es.[5] Dies belegt, dass das entscheidende Problem der ukrainischen Streitkräfte weniger der Mangel an Waffen als vielmehr der Mangel an Soldaten ist.

Komplizierte Tricksereien

Um wenigstens die Beschaffung von Waffen für die Ukraine weiterhin finanzieren und damit den Krieg noch möglichst lange fortsetzen zu können, schlagen Kramp-Karrenbauer, Dixon und Buchheit in der Internationalen Politik vor, das im westlichen Ausland angelegte russische Staatsvermögen abzugreifen und zu nutzen. Dies käme Diebstahl gleich und ist nach nationalem wie internationalem Recht illegal. Kramp-Karrenbauer, Dixon und Buchheit plädieren deshalb für komplizierte Tricksereien, die sie für legal erklären. Demnach soll – im Vorgriff auf künftige Friedensverhandlungen – fest davon ausgegangen werden, dass Kiew Moskau zur Zahlung von Reparationen verpflichten kann. Anders, als die drei Autoren des Beitrags suggerieren, ist das höchst ungewiss. Der Vorschlag lautet nun, die EU solle der Ukraine neue Darlehen bis zu einem Betrag von gut 300 Milliarden US-Dollar gewähren. Im Gegenzug solle Kiew zusagen, die Darlehen notfalls aus den Reparationen zurückzuzahlen. Weigere sich Russland, Reparationen zu leisten, solle die EU sich einfach aus den russischen Auslandsguthaben bedienen.[6] Das sei legal – denn es gebe einen Völkerrechtsgrundsatz, nach dem „ein Land Wiedergutmachung für Schäden leisten muss, die es durch illegale Handlungen verursacht hat“.

Doppelte Standards

Die Argumentation ist bemerkenswert. Deutschland hat mehrfach geltend gemacht, es sei nicht zur Zahlung von Reparationen für die Verwüstungen verpflichtet, die sein Rechtsvorgänger, das Deutsche Reich, in zahlreichen Ländern Europas angerichtet hat. Zur Begründung wurde in Berlin immer wieder auf die Staatenimmunität verwiesen.[7] Spräche die Bundesregierung diese nun einem anderen Staat – Russland etwa – ab, dann wäre nicht ersichtlich, wie sie sie weiterhin für sich beanspruchen könnte. Hunderte Milliarden Euro schwere Ansprüche könnten mit einer Pfändung deutschen Eigentums in den einst vom NS-Reich überfallenen Ländern durchgesetzt werden. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Bundesregierung sich bislang weigerte, die Enteignung russischen Staatsvermögens im großen Stil mitzutragen. Im Falle Belgiens, des Landes, in dem mit fast 200 Milliarden US-Dollar der größte Anteil des russischen Auslandsvermögens liegt, kommt hinzu, dass die Regierung in Brüssel es für nicht unwahrscheinlich hält, im Falle der Beschlagnahmung der russischen Gelder von einem internationalen Gericht verurteilt und zur Rückzahlung verpflichtet zu werden. Sie verweigert sich daher dem Zugriff auf russisches Auslandsvermögen strikt.

„In die richtige Richtung“

Das hindert die Bundesregierung, wie berichtet wird, nicht daran, sich von ihrer bisher klar ablehnenden Position gegenüber einer Beschlagnahmung des russischen Auslandsvermögens abzuwenden. Jüngst hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ähnlich dem Vorschlag von Kramp-Karrenbauer, Dixon und Buchheit, vorgeschlagen, im Vorgriff auf etwaige russische Reparationen auf das russische Auslandsvermögen zuzugreifen und Mittel daraus als „Reparationsdarlehen“ an Kiew zu überweisen. Moskau dürfe diesen Betrag dann von seinen künftigen Reparationen abziehen, heißt es.[8] Die Begründung ist juristisch ebenso windig wie diejenige aus dem Beitrag in der Internationalen Politik. Über die Pläne der EU, den Zugriff auf russisches Staatsvermögen freizugeben, äußerte am Wochenende allerdings Günter Sautter, außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Friedrich Merz, die Diskussion in der EU komme „in Bewegung“ und bewege sich „in die richtige Richtung“.

Risiken und Nebenwirkungen

Ein weiterer Grund, der nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich bislang davon abgehalten hat, russisches Auslandsvermögen zu beschlagnahmen, liegt darin, dass der Schritt ein Präzendenzfall auch mit indirekten Folgen wäre. Er stellte klar, dass in der EU angelegtes Vermögen im Fall eines Konfliktes mit den Mächten Europas künftig nicht mehr sicher ist. China etwa könnte davon ausgehen, dass sein Vermögen in der EU bei einer Eskalation des Konflikts jederzeit beschlagnahmt werden könnte. Ähnliches gilt für Staaten der Arabischen Halbinsel. Es liegt nahe, dass diese Staaten zumindest neue Zurückhaltung bei der Anlage ihres Vermögens in der EU zeigen werden. Auch der baldige Abzug von Guthaben ist möglich. Dies würde unter anderem den Euro schwächen – in einer Zeit, in der aufgrund der aufrüstungsbedingt zunehmenden Verschuldung in der EU bereits davon die Rede ist, eine neue Eurokrise sei mittel- bis langfristig nicht auszuschließen (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Als wie ernst diese Gefahr angesehen wird, zeigt insbesondere der Plan, die Aufrüstung der Ukraine nicht mehr aus eigenen, sondern aus russischen Mitteln zu bezahlen: Setzte man die Finanzierung aus den Etats der EU-Staaten fort, dann bewegten diese sich noch schneller auf die gefürchtete Schuldenkrise zu.

 

[1] Annegret Kramp-Karrenbauer, Hugo Dixon, Lee Buchheit: Wie Merz der Ukraine zu einer Kriegskasse von 300 Milliarden Dollar erzählen kann. internationalepolitik.de 05.05.2025.

[2] S. dazu Gefährliche Sicherheitsgarantien.

[3] Ukrainian Support for War Effort Collapses. news.gallup.com 07.08.2025.

[4], [5] Yauhen Lehalau: With Desertions, Low Recruitment, Ukraine’s Infantry Crisis Deepens. rferl.org 10.08.2025.

[6] Annegret Kramp-Karrenbauer, Hugo Dixon, Lee Buchheit: Wie Merz der Ukraine zu einer Kriegskasse von 300 Milliarden Dollar erzählen kann. internationalepolitik.de 05.05.2025.

[7] S. dazu Das Recht des Täters (II) und Die doppelten Standards der Kolonialmächte.

[8] Berlin denkt über russische Vermögen für Kiew nach. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.09.2025.

[9] S. dazu Die Krisen der EU.


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