„Syrien eine Chance geben“

EU kündigt Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien an – nach Massakern an Minderheiten und im Gleichschritt mit den USA, die die Kriege in Nah- und Mittelost stoppen wollen, um sich ganz auf den Machtkampf gegen China zu konzentrieren.

BERLIN/BRÜSSEL/DAMASKUS (Eigener Bericht) – Die EU hebt ihre Sanktionen gegen Syrien auf und schließt sich damit einem identischen Schritt der Trump-Administration an. Wie Außenminister Johann Wadephul nach der Entscheidung gönnerhaft erklärte, wolle das Staatenkartell der Regierung in Damaskus „eine wirkliche Chance geben“. Dies geschieht, nachdem regierungsnahe Milizen Massaker an mehr als 1.500 alawitischen Zivilisten verübt haben, bei Kämpfen zwischen sunnitischen Milizen und Drusen mehr als 100 Menschen zu Tode gekommen sind und eine weitere Eskalation mörderischer Gewalt gegen Minderheiten droht. Der syrischen Regierung unter Präsident Ahmed al Sharaa wird zudem vorgeworfen, ein autoritäres Regime verstetigen zu wollen. Die EU sucht ihren Einfluss in Syrien zu stärken, während Israel das Land fortgesetzt bombardiert und seinen Süden okkupiert – dies auch, um den Einfluss der Türkei zu stoppen, die Al Sharaa seit Jahren unterstützt und von seiner Herrschaft in Damaskus profitiert. US-Präsident Donald Trump wiederum ist bemüht, die Kriege nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Nah- und Mittelost zu beenden, um alle Kräfte in den Machtkampf gegen China werfen zu können.

Ein autoritäres System

In Syrien ist nach wie vor unklar, welchen Kurs die Regierung unter Präsident Ahmed al Sharaa langfristig einschlagen wird. Die neue Verfassung des Landes, die im März in Kraft getreten ist, sieht unter anderem vor, dass islamisches Recht nicht mehr „eine zentrale“, sondern „die zentrale Quelle der Gesetzgebung ist“. Repräsentanten mehrerer Minderheiten kritisieren dies und warnen zudem, das Dokument drohe den Weg zu einem „autoritären System“ zu bahnen.[1] In die neue, Ende März gebildete Regierung hat Al Sharaa einige Minderheitenvertreter eingebunden, die sich dabei aber mit weniger einflussreichen Posten begnügen müssen. So hat die einzige Frau im Kabinett – sie ist zudem das einzige christliche Regierungsmitglied – den Posten der Ministerin für Arbeit und Soziales bekommen. Die wichtigsten Ämter, darunter die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Äußeres, sind in den Händen führender Funktionäre der einstigen Jihadistenmiliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) verblieben, die unter Al Sharaa in den Jahren von 2017 bis 2024 mit brutaler Gewalt in der nordwestsyrischen Provinz Idlib herrschte (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Einen Ministerpräsidenten gibt es nicht, was die Macht von Präsident Al Sharaa zusätzlich stärkt.

Pogrome und Massaker

Dramatisch zugespitzt hat sich die Gewalt gegen Minderheiten, die inzwischen mehrmals in Pogrome mit zahllosen Todesopfern gemündet ist. Allein in der Großstadt Homs wurden von Anfang Januar bis Mitte März laut Angaben des in Großbritannien ansässigen Syrian Observatory for Human Rights (SOHR) mindestens 50 Morde an Minderheitenangehörigen, insbesondere Alawiten, verübt.[3] Das SOHR gibt die Zahl der Menschen, die im Verlauf der Kämpfe zwischen regierungsnahen und alawitischen Milizen ab dem 6. März und vor allem bei den folgenden Pogromen und Massakern an Alewiten zu Tode kamen, mit über 2.000 an; mindestens 1.557 von ihnen seien Zivilisten gewesen.[4] Tausende Alawiten flohen über die Grenze in den Libanon; Tausende suchten in der russischen Luftwaffenbasis Hmeimim bei Latakia Zuflucht vor ihren Verfolgern. Ende April kamen bei Angriffen sunnitischer, der Regierung mindestens nahe stehender Milizen auf die Minderheit der Drusen über hundert Menschen zu Tode.[5] Die Spannungen dauern auf hohem Niveau an. Schon im März warnte Ayhan Doğaner, ein Experte der Istanbuler Denkfabrik EDAM (Ekonomi ve Dış Politika Araştırmalar Merkezi, Centre for Economics and Foreign Policy Studies), die Lage in Syrien ähnele derjenigen im Irak nach dem US-Überfall im Jahr 2003, als nach anfänglichen Hoffnungen das Land in Konflikten versunken sei.[6]

Die israelisch-türkische Rivalität

Zu den düsteren Perspektiven tragen die israelischen Angriffe auf Syrien und die erbitterte israelisch-türkische Rivalität in der Region bei. Israel hat sich zwar gerühmt, mit seinen Bombardements vor allem von Stellungen der Hizbollah in Syrien maßgeblich zum Sturz von Bashar al Assad und zur Machtübernahme der HTS unter Al Sharaa beigetragen zu haben [7], erklärt jetzt aber, Al Sharaa und die HTS stellten mit ihrer neu gewonnenen Macht eine Bedrohung für es dar. Damit rechtfertigt es Dutzende, vermutlich gar Hunderte Angriffe auf Ziele in Syrien, insbesondere militärische Einrichtungen. Zudem hat es Teile Südsyriens auch jenseits der Golanhöhen besetzt – teils unter dem Vorwand, die Drusen schützen zu wollen. Israels Finanzminister Bezalel Smotrich gibt an, Ziel der israelischen Angriffe sei es, „Syrien zu zerlegen“.[8] Die Türkei, die HTS lange Jahre unterstützt und der Miliz schließlich auch zur Machtübernahme in Damaskus verholfen hat, setzt dagegen darauf, ihren starken Einfluss auf Al Sharaa zu sichern und Syrien unter seiner Herrschaft territorial intakt zu halten. Dies verbindet sie mit dem Plan, die syrischen Streitkräfte auszubilden und aufzurüsten sowie selbst Militärstützpunkte in Syrien zu errichten. Israel lehnt dieses – absehbare – Vorhaben ab und erklärt, vom wachsenden Einfluss der Türkei sehe es sich ebenfalls bedroht.[9]

Trumps Prioritäten

Während Verhandlungen zwischen Israel und der Türkei mit dem Ziel, eine Eskalation des Konflikts zu verhindern, andauern [10], hat ein Vorstoß von US-Präsident Donald Trump der Entwicklung in Syrien neue Dynamik verliehen. Trump traf am Mittwoch vergangener Woche bei einem Besuch in Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad mit Al Sharaa zusammen – dies im Beisein des saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman sowie – telefonisch – des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.[11] Dabei kündigte er an, die Sanktionen, die Washington gegen Syrien verhängt hat, aufheben zu wollen; er wolle Syrien „eine Chance“ geben. Der Vorstoß steht im Zusammenhang mit einem Kurswechsel der Trump’schen Mittelostpolitik. Übergeordnetes Ziel ist es, die Kriege in Osteuropa und im Mittleren Osten zu beenden, um sämtliche militärischen Kräfte in den Machtkampf gegen China werfen zu können. Trump ist dabei dazu übergegangen, sehr eng mit den arabischen Golfstaaten zu kooperieren, die er vergangene Woche bereiste, und deren Bemühen um einen Ausgleich mit Iran (german-foreign-policy.com berichtete [12]) zu unterstützen. Dazu treibt er aktuell die Einigung auf einen erneuten Nukleardeal mit Teheran voran. Ergänzend versucht er, die drohende Eskalation der Konflikte in und um Syrien zu verhindern.

„Wie in Afghanistan“

Dem schließt sich nun auch die EU an. Sie hatte bereits zuvor – wie auch Großbritannien – einige Sanktionen gegen Syrien vorläufig ausgesetzt. Am 7. Mai hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Al Sharaa in Paris zum Gespräch empfangen und sich für eine weitere Reduzierung der Sanktionen ausgesprochen.[13] Nach Trumps Vorstoß in der vergangenen Woche entschieden am Dienstag auch die EU-Außenminister, die Syrien-Sanktionen gänzlich aufzuheben.[14] Man wolle „der neuen Führung eine wirkliche Chance geben“, erläuterte Außenminister Johann Wadephul gönnerhaft den Schritt. Diese „Chance“ erhält Damaskus, nachdem bei Pogromen und Massakern an Alewiten mehr als 2.000 und bei Angriffen auf Drusen über 100 Menschen ums Leben gekommen sind. Unterstütze man Damaskus nicht bei dem Versuch, das Land zu stabilisieren, dann könnten in Syrien Verhältnisse entstehen „wie in Afghanistan“, erklärte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas.[15] Dass dies tatsächlich droht, liegt daran, dass die EU gemeinsam mit den USA alles daran setzte, die Regierung von Präsident Bashar al Assad zu stürzen. Deutschland förderte dabei gar das Jihadistenregime von HTS in Idlib.[16] Sowohl ein kompletter Zerfall Syriens als auch eine Verfestigung eines Jihadistenregimes in Damaskus – beide Szenarien sind möglich – gingen auf das Konto der westlichen Mächte, darunter insbesondere auch die Bundesrepublik.

 

Mehr zum Thema: Wettlauf um Syrien (III) und Massaker in Syrien.

 

[1] Matthew Hoare: Syria’s Kurds reject temporary constitution, calling it ‘authoritarian’. newarab.com 14.03.2025.

[2] S. dazu Umwälzungen in Syrien (I) und Umwälzungen in Syrien (II).

[3] Elizabeth Hagedorn: ‘Afraid of what’s next’: Alawites in Syria’s Homs on edge after revenge attacks. al-monitor.com 18.03.2025.

[4] Katya Hovnanian-Alexanian: Fearing for safety, Syria’s Alawites who fled to Lebanon have no plans to return. al-monitor.com 22.03.2025.

[5] Syrian Druze leader condemns government over sectarian violence. aljazeera.com 01.05.2025.

[6] Barin Kayaoglu: Turkey, alarmed by sectarian clashes, steps up Syria role, criticizes Iran. al-monitor.com 18.03.2025.

[7] Bethan McKernan: Hezbollah’s war with Israel left the Assad regime fatally exposed. theguardian.com 08.12.2025.

[8] Sam Sokol: Smotrich: Fighting won’t end until hundreds of thousands of Gazans leave, Syria partitioned. timesofisrael.com 29.04.2025. S. auch „Eine Wende in der Geschichte”.

[9] Ben Caspit: As Israel pummels Syria, can it avoid collision course with Turkey? al-monitor.com 04.04.2025.

[10] Ragip Soylu: Turkey and Israel set up hotline over Syria tensions. middleeasteye.net 21.05.2025.

[11] Zeke Miller, Jon Gambrell, Aamer Madhani: Trump meets with Syria’s interim president, a first between the nations’ leaders in 25 years. apnews.com 14.05.2025.

[12] S. dazu Das Ende der US-Dominanz am Persischen Golf (III).

[13] Emmanuel Macron demande au dirigeant syrien Ahmed Al-Charaa de protéger « tous les Syriens sans exception ». lemonde.fr 07.05.2025.

[14], [15] EU hebt Syrien-Sanktionen auf. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.05.2025.

[16] S. dazu Wettlauf um Syrien.


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