Der Weg zur Bombe
Die Debatte über eine mögliche nukleare Aufrüstung Deutschlands bzw. Europas dauert an. Während eine deutsche Bombe nicht ausgeschlossen wird, raten Berliner Experten zu einem umsichtigen Vorgehen.
BERLIN/PARIS (Eigener Bericht) – Berliner Außenpolitikexperten raten beim Streben nach einer eigenständigen atomaren Aufrüstung Deutschlands bzw. Europas zu einem umsichtigen Vorgehen. Es genüge nicht, sich einfach einem französischen Nuklearschirm zu unterstellen, heißt es in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird. Frankreich habe die Force de Frappe darauf fokussiert, per Androhung einer kompletten Vernichtung der russischen Entscheidungszentren Abschreckung zu erzielen; es verfüge nicht über taktische Atomwaffen und könne daher auf einen russischen Angriff mit derlei Waffen in Osteuropa nicht adäquat reagieren, heißt es bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Eine sofortige Beschaffung einer deutschen bzw. europäischen Bombe werde harten Widerstand auslösen und eine Reihe weiterer Staaten zur nuklaren Bewaffnung anstacheln. Es gelte also, den US-Nuklearschirm eine Zeitlang zu sichern sowie unterdessen die eigenen atomtechnologischen Fähigkeiten ohne großes Aufsehen weiterzuentwickeln. In den USA wird inzwischen über einen nuklearen Erstschlag gegen China diskutiert.
Ein französischer Nuklearschirm
Als Hauptoption für eine atomare Bewaffnung der EU gilt nach wie vor ein Rückgriff auf das französische Nuklearwaffenpotenzial. Schon seit 2020, so heißt es in einem Beitrag in der Zeitschrift Internationale Politik, „lädt Paris europäische Partner zu bilateralen Dialogen ein, um gemeinsam über die Rolle Frankreichs in der europäischen Abschreckung zu diskutieren“.[1] Auch die Bundesregierung ist dazu mit Frankreichs Regierung im Gespräch. Die Option hat jedoch ernste Nachteile. So weist die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin darauf hin, dass das französische Nukleararsenal speziell darauf ausgerichtet ist, „Russlands Entscheidungszentren mit inakzeptablen Schäden zu bedrohen“.[2] Über sogenannte taktische Atomwaffen hingegen verfügt Frankreich nicht. Setzte Russland derlei taktische Atomwaffen etwa in Osteuropa ein, wäre es unwahrscheinlich, dass Paris mit einem Einsatz seines Nuklearpotenzials „eine unkontrollierte Eskalation – und damit den nationalen Selbstmord – riskieren würde“, konstatiert die SWP. Es kommt hinzu, dass Frankreich – das hat Präsident Emmanuel Macron zuletzt im Mai betont – keinesfalls bereit ist, sich die alleinige Entscheidungsgewalt über einen Atomeinsatz abnehmen zu lassen. Diese bleibe, erklärte Macron, auch in Zukunft einzig und allein in Paris.[3]
Eine deutsche Bombe
Weiterhin diskutiert wird auch die Option, in einem nationalen Alleingang eine deutsche Atombombe zu bauen. Dies gilt als kosten- und zeitintensiv; dennoch halten „Berliner Diplomaten“, wie Der Spiegel berichtet, „dieses Szenario hinter vorgehaltener Hand nicht für ausgeschlossen“.[4] Freilich wäre ein solcher Schritt mit schweren politischen Verwerfungen und Konflikten verbunden. Russland etwa werde „wohl alles tun, um nukleare Proliferation zu verhindern“, urteilt die Internationale Politik; dabei habe es erhebliche Druckmittel – denn es verfüge weiterhin über einen „Eskalationsvorteil durch strategische und taktische Atomwaffen“.[5] Auch die USA hätten „wenig Interesse daran, dass die Europäer eigene Atomwaffen entwickeln“. Würden Deutschland oder gar mehrere Staaten Europas „trotzdem eigene Arsenale aufbauen und damit Begrenzungen wie den Nichtverbreitungsvertrag aufgeben“, heißt es weiter in der Internationalen Politik, dann „wäre die Folge eine weitere Destabilisierung“: „Voraussichtlich würden Staaten weltweit diesem Beispiel folgen“ – dies „mit dem Ergebnis eines instabilen, nuklear bewaffneten Europas“, mit „unvorhersehbaren innen- wie außenpolitischen Dynamiken“ und darüber hinaus auch noch mit einer „weltweit steigenden Zahl von Atomwaffenbesitzern“. Dieser Weg sei äußerst riskant.
Taktisch vorgehen
Für ein mögliches Vorgehen der Bundesrepublik nimmt die Internationale Politik „drei Hauptaufgaben“ in den Blick.[6] „Erstens“ müsse man versuchen, „die USA so weit wie möglich in Europas Verteidigung zu halten“, heißt es in dem Beitrag; Hintergrund ist die Tatsache, dass jegliche nukleare Bewaffnung der EU längere Zeit benötigt und bis zur Indienststellung europäischer Atomwaffen eine Überbrückung durch die bislang in Europa stationierten US-Atomwaffen erforderlich wäre. „Zweitens“, so heißt es weiter in der Internationalen Politik, müssten die Staaten Europas „ihre konventionellen Fähigkeiten ausbauen, denn auch sie verändern das russische Kalkül“. „Drittens“ aber hätten sie „einen umfassenden nuklearen Dialog in Europa voran[zu]treiben, um Worst-Case-Szenarien durchzuspielen, nukleare Doktrinen anzupassen, technologische Kompetenzen auszubauen und zusätzliche nukleare Fähigkeiten zu erwerben“. Dies versetzte Deutschland respektive die EU tatsächlich in die Lage, relativ schnell eigene Atomwaffen zu produzieren. „Das Dilemma besteht darin“, resümiert die Internationale Politik, „die USA in Europas Abschreckung zu halten und gleichzeitig Alternativen zu entwickeln“; und das, „ohne Washington den Eindruck zu vermitteln, man bräuchte es nicht mehr“.
Abwehrreflexe
In diesem Sinn hat Bundeskanzler Friedrich Merz kürzlich auf einen Vorstoß des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Jens Spahn, reagiert. Spahn hatte erklärt, Europa müsse „abschreckungsfähig werden“. Dazu reichten die in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Italien stationierten US-Atomwaffen nicht aus. Auf die Frage, ob Deutschland atomar aufrüsten solle, erklärte Spahn: „Ich weiß, welche Abwehrreflexe sich jetzt sofort regen, aber ja: Wir sollten eine Debatte über einen eigenständigen europäischen Nuklearschirm führen.“ Dazu sei deutsche Führung vonnöten: „Frankreich wird uns an seinen roten Knopf, um im Bild zu bleiben, ziemlich sicher nicht ranlassen.“[7] Eine nukleare Bewaffnung werde teuer, räumte Spahn ein; doch „wer nicht nuklear abschrecken kann“, werde „zum Spielball der Weltpolitik“. Merz warnte, der Vorstoß sei voreilig. Man müsse „alles tun“, um „auch für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte“, die „nukleare Teilhabe mit den Vereinigten Staaten von Amerika aufrechtzuerhalten“. Ursache dafür sei, dass eine atomare Bewaffnung Europas viel Zeit benötige. Man müsse dazu Fragen beantworten, „die ganz sicher den Zeitraum überschreiten, in dem wir jetzt zunächst einmal mit den vorhanden Strukturen die Verteidigungsfähigkeit Europas verbessern müssen“, urteilte Merz.[8]
Zum Erstschlag bereit
Während es weithin heißt, die Staaten Europas müssten sich gegen Atomdrohungen aus Russland zur Wehr setzen und deshalb nuklear aufrüsten, denken US-Spezialisten über einen möglichen nuklearen Erstschlag der Vereinigten Staaten nach, so etwa Matthew Kroenig von der Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council. Kroenig spekuliert zum einen über einen etwaigen nuklearen Erstschlag Chinas, den er für denkbar erklärt: Wenn die Volksrepublik „Atomwaffen ... grundsätzlich nie einsetzen“ würde, würde sie „ihr nukleares Arsenal“ schließlich kaum aufrüsten, behauptet er.[9] China schließt in Wirklichkeit – als einziges Land neben Indien – einen atomaren Erstschlag aus und hat erklärt, grundsätzlich keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearmächte einzusetzen. Aus einem angeblich möglichen chinesischen Erstschlag leitet Kroenig seine Forderung ab, die Vereinigten Staaten müssten, falls sie die militärische Einnahme Taiwans durch die Volksrepublik nicht verhindern könnten, ihrerseits einen atomaren Erstschlag in Betracht ziehen.[10] Ob auch Deutschland bzw. die EU dies im Falle der Beschaffung einer deutsch-europäischen Bombe in Betracht ziehen würden, ist nicht bekannt.
[1] Liviu Horovitz, Claudia Major: Überleben in der nuklearen Unordnung. In: Internationale Politik, Juli/August 2025. S. 32-37.
[2] Liviu Horovitz: Die erweiterte nukleare Abschreckung der USA in Europa – drei Szenarien. SWP-Aktuell 2025/A 30. swp-berlin.org 24.06.2025.
[3] Dissuasion nucléaire : sur TF1, Macron se dit « prêt à ouvrir une discussion » avec d’autres pays de l’UE. tf1info.fr 13.05.2025. S. dazu „Nuklear unabhängig von den USA”.
[4] Markus Becker, Bernhard Zand: Das neue Atombombenzeitalter hat längst begonnen. spiegel.de 06.07.2025.
[5], [6] Liviu Horovitz, Claudia Major: Überleben in der nuklearen Unordnung. In: Internationale Politik, Juli/August 2025. S. 32-37.
[7] Spahn fordert direkteren Zugriff Deutschlands auf Atomwaffen. tagesspiegel.de 28.06.2025.
[8] Merz bremst Spahn bei Vorstoß zu europäischem Atomschutzschirm. spiegel.de 01.07.2025.
[9], [10] Markus Becker, Bernhard Zand: Das neue Atombombenzeitalter hat längst begonnen. spiegel.de 06.07.2025.
