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Deutsche Bundesländer setzen, um das Schrumpfen ihrer Wirtschaft zu verhindern, auf den Ausbau der Rüstungsindustrie. Diese erwartet Aufträge in vielfacher Milliardenhöhe, fürchtet aber Mangel an industrieller Kapazität und Personal.
BERLIN (Eigener Bericht) – Mehrere deutsche Bundesländer treiben, um dem Schrumpfen ihrer Wirtschaftsleistung zu entkommen, den Ausbau der Rüstungsindustrie energisch voran. Baden-Württemberg etwa will die Branche zu einem neuen industriellen Schwerpunkt aufwerten und strebt dabei in möglichst vielen Rüstungssparten „Technologie-Führerschaft“ an. Die Regierung des Saarlands bereitet einen „Rüstungsgipfel“ vor und wirbt bei führenden Waffenschmieden um die Ansiedlung neuer Fabriken. Einer aktuellen Untersuchung zufolge konnten im vierten Quartal 2024 nur fünf Bundesländer ein Wirtschaftswachstum erzielen; in dreien von ihnen habe „der Aufschwung in der Rüstungsindustrie ... eine zentrale Rolle“ gespielt, heißt es in einer Analyse des Münchner ifo-Instituts. Die Hoffnung auf einen neuen Rüstungsaufschwung gründet sich darauf, dass in Deutschland und der EU bis zum Jahr 2030 bis zu einer Billion Euro zusätzlich in die Aufrüstung fließen sollen. Insider warnen, es sei unklar, ob die industriellen Kapazitäten sowie das verfügbare Personal ausreichten, um derlei Summen in konkrete Rüstungsproduktion umzusetzen. Hilfreich sei die Übernahme bisher ziviler Fabriken und Fachkräfte etwa aus der schwächelnden Kfz-Industrie.
Aufschwung dank Militarisierung
Aktuelle Zahlen zur ökonomischen Entwicklung in Deutschland geben der Hinwendung zur Rüstungsindustrie neuen Auftrieb. Einer Berechnung des Münchner ifo-Instituts zufolge, die in der vergangenen Woche publiziert wurde, verzeicheten im vierten Quartal 2024 lediglich fünf der 16 Bundesländer ein – wenngleich recht mäßiges – Wirtschaftswachstum. Bei dreien von ihnen – Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein – habe dabei „der Aufschwung in der Rüstungsindustrie ... eine zentrale Rolle“ gespielt, schreibt das ifo-Institut, das im Hinblick auf die erwarteten Milliardeninvestitionen in die Bundeswehr schon davon spricht, die norddeutsche Industrie „entkoppel[e]“ sich dank etwa der Marinewerften an der Küste und weiterer Waffenschmieden „von der gesamtdeutschen Entwicklung“.[1] Ihr Wachstum kontrastiert dabei mit einem Abschwung in Bundesländern, in denen etwa die Kfz-Industrie traditionell stark ist (Baden-Württemberg, Bayern) oder energieintensive Branchen, so etwa Teile der Chemieindustrie, eine bedeutende Stellung innehaben (Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen). Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) erklärte in der vergangenen Woche, seine Regierung wolle weiterhin auf die Rüstungsbranche setzen: „Man muss schauen, dass man für seine Wirtschaftsstruktur das tun kann, was möglich ist.“[2]
Klinkenputzen bei Rüstungsfirmen
Mittlerweile haben die Regierungen weiterer Bundesländer angekündigt, sich verstärkt um die Förderung von Rüstungsunternehmen zu bemühen. Bereits Anfang März hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) erklärt, man wolle beim rasanten Ausbau der Rüstungsindustrie in ganz Europa „mitmischen“; die Branche müsse in Baden-Württemberg zu einem neuen industriellen Schwerpunkt werden.[3] Kretschmann verwies auf Diehl Defence aus Überlingen am Bodensee, eine Firma, die für ihre Flugabwehrsysteme vom Typ IRIS-T bekannt ist und im Jahr 2024 ihren Umsatz gegenüber dem Vorjahr um 50 Prozent auf 1,5 Milliarden Euro steigern konnte.[4] Wie der Grünen-Politiker fordert, solle die gesamte baden-württembergische Rüstungsbranche künftig „Technologie-Führerschaft“ anstreben. Auch das Saarland setzt inzwischen ausdrücklich auf Waffenschmieden. Der dortige Landtag nahm in der vergangenen Woche eine von der SPD eingebrachte Resolution an, laut der das Bundesland nun für die Rüstungsindustrie attraktiver werden solle. Wirtschaftsminister Jürgen Barke (SPD) habe schon Einladungen an führende Unternehmen der Branche verschickt, hieß es; Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) bereite einen „Rüstungsgipfel“ vor.[5] Die AfD-Fraktion fordere ein entschlossenes „Klinkenputzen“ in der Branche.
Panzer statt Pkw
Unklar ist, ob die deutsche Industrie das angestrebte rasante Rüstungswachstum tatsächlich stemmen kann. Ursache ist zum einen, dass die nötigen industriellen Kapazitäten nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind. Rüstungsunternehmen haben begonnen, ihre Fabriken auszubauen und neue Werke zu errichten; Rheinmetall-Chef Armin Papperger etwa berichtete kürzlich: „Wir haben in Europa zehn Werke, die wir derzeit verdoppeln oder komplett neu bauen“.[6] Dieser Ausbau lässt sich allerdings nicht – gleichsam auf Knopfdruck – beliebig beschleunigen. Spezialisten äußern, die deutsche Industrie sei fähig, einen „Aufwuchs der Rüstungsausgaben ... im mittleren einstelligen Milliardenbereich“ alleine „mit organischem Wachstum“ zu stemmen.[7] „Ginge der Aufwuchs deutlich darüber hinaus“ – und darauf zielt Berlin –, „müssten Kapazitäten aus anderen rüstungsnahen Industrien verschoben werden“. Dies hat bereits begonnen. So hat der deutsch-französische Panzerbauer KNDS angekündigt, ein Eisenbahnwerk des französischen Konzerns Alstom in Görlitz zu übernehmen. Darüber hinaus zieht Rheinmetall einen Erwerb des Volkswagen-Werks in Osnabrück in Betracht. Rheinmetall hat zudem mitgeteilt, seine Standorte in Neuss und Berlin, an denen bislang Kfz-Teile zur zivilen Nutzung hergestellt werden, künftig für die Produktion von Kriegsgerät zu nutzen.
Personalzuwachs
Langfristig als schwierig erweisen könnte sich außerdem der unverzichtbare Aufwuchs im Personalbestand der Rüstungsindustrie. Über die Anzahl der direkten wie auch der indirekten Beschäftigten in der Branche liegen unterschiedliche Angaben vor. „Die Endhersteller wie Rheinmetall, KNDS, TKMS [ThyssenKrupp Marine Systems] oder Diehl“ verzeichneten heute „rund 60.000 Mitarbeiter in Deutschland“, schätzt Klaus-Heiner Röhl, Rüstungsexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln; „einschließlich der Zulieferer“ seien es „ungefähr 150.000“.[8] Dabei nimmt die Zahl der Angestellten in der Branche schon deutlich zu. Rheinmetall etwa hatte Anfang 2023 noch rund 26.000 Mitarbeiter gemeldet; heute sind es bereits 32.000, 2027 sollen es mindestens 40.000 sein. Diehl Defence steigerte die Zahl seiner Angestellten von knapp 3.800 im Jahr 2023 auf ungefähr 4.500 Anfang 2025. Hensoldt wuchs im selben Zeitraum von weniger als 6.600 auf 8.400 und will dieses Jahr wenigstens 1.000 weitere einstellen. Die Firma Renk, die Panzergetriebe fertigt, zählte Ende 2022 um die 3.300 Arbeitskräfte; heute sind es bereits 4.000.[9] Ein vergleichbarer Personalzuwachs ist auch bei zahlreichen weiteren Unternehmen der deutschen Rüstungsbranche zu registrieren.
Vom Autobauer zum Waffenschmied
Als günstig für die Branche wirkt sich dabei aus, dass in der Bevölkerung einst vorhandene Hemmungen, Kriegsgerät zu produzieren, eindeutig abgenommen haben. „Die Akzeptanz für die Branche wächst, das Interesse der Bewerber steigt“, konstatierte eine Headhunterin schon im März 2023, lediglich ein Jahr nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs: „Die Arbeit in der Rüstung wird als sinnstiftender empfunden“.[10] Mittlerweile komme noch hinzu, wurde vor kurzem eine Expertin der Jobplattform Indeed zitiert, dass die riesigen in Berlin geplanten Rüstungsausgaben „die Arbeitgeberattraktivität“ erhöhten; Jobs in der Waffenindustrie gälten als krisensicher.[11] Längst melden Rüstungskonzerne Bewerbungen in Rekordhöhe. Trotz allem geben sich Insider skeptisch. Man müsse voraussichtlich „Hunderttausende zusätzliche Stellen“ besetzen, erläutert eine Spezialistin der Personalberatung Heinrich und Coll; dabei seien längst nicht alle, die Bewerbungen einschickten, fachlich geeignet. Helfen könne, dass Rüstungskonzerne wie etwa Rheinmetall oder Hensoldt bereits Vereinbarungen mit Kfz-Konzernen und deren Zulieferern getroffen hätten, denen zufolge sie Personal, das bei diesen entlassen werde, übernähmen.[12] Damit werde man jedoch „das Problem ... nicht komplett lösen können“.
Politische Hindernisse
Denn zum einen mache Deutschland ja nicht seine „komplette Auto- oder Bahnindustrie dicht“, konstatiert die Spezialistin; zum anderen gebe es politische Hindernisse – Bürger von Staaten wie etwa Russland, China, Iran, aber auch Syrien und Afghanistan dürften aufgrund ihrer Herkunft nicht in deutschen Rüstungskonzernen tätig sein. Das schließt Flüchtlinge wie auch Arbeitsmigranten aus bedeutenden Herkunftsländern aus, die in anderen Branchen den in Deutschland bestehenden Mangel an Fachkräften und an anderen Arbeitern zu decken helfen. Sie sei „skeptisch“, erklärt die Spezialistin, „dass man mit dem vorhandenen Personal die Steigerung der Entwicklungs- und Produktionsleistung stemmen kann“.[13]
Mehr zum Thema: Panzer statt Pkw.
[1] Nur fünf Bundesländer sind im vierten Quartal 2024 gewachsen. ifo.de 15.04.2025.
[2] Bernd Bachran: Rüstungsindustrie statt Autoindustrie? zdf.de 16.04.2025.
[3] Michael Herr, Petra Thiele: Kretschmann will Rüstungsindustrie zu neuem Schwerpunkt in BW machen. swr.de 05.03.2025.
[4] M. Frühauf, J. Jansen, P. Plickert, C. Schubert, N. Záboji: Wer rüstet Europa auf? Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.03.2025.
[5] Moritz Grenner: Saarland soll attraktiver für die Rüstungsindustrie werden. sr.de 10.04.2025.
[6] Roman Tyborski, Alexander Voß, Martin Knobbe: Papperger rechnet mit Aufträgen von bis zu 300 Milliarden Euro. handelsblatt.com 17.04.2025.
[7] Max Krahé: Haben wir die Kapas? dezernatzukunft.org 27.03.2025.
[8] Eine boomende Industrie. tagesschau.de 12.03.2025.
[9] M. Frühauf, J. Jansen, P. Plickert, C. Schubert, N. Záboji: Wer rüstet Europa auf? Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.03.2025.
[10] Dominik Reintjes, Konrad Fischer: Die Arbeitgeber-Attraktivität hat ihre ganz eigene Zeitenwende. wiwo.de 16.03.2023.
[11] Angelika Melcher: Jobs in der Rüstungsindustrie boomen. wiwo.de 19.04.2025.
[12], [13] Franziska Telser: „Es herrscht jetzt schon erheblicher Personalmangel“. handelsblatt.com 17.04.2025.
