Tomasz Konicz: Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa
Münster 2015 (Unrast Verlag) 192 Seiten 14,00 Euro ISBN 978-3-89771-591-2
Außergewöhnlich scharfe Kommentare konnte man in der internationalen Presse nach dem EU-Gipfel vom 12. Juli 2015 lesen. Die Bevölkerung Griechenlands hatte die deutsch inspirierten EU-Kürzungsdiktate soeben per Referendum zurückgewiesen. Und was geschah? Auf Druck Berlins zwang der EU-Gipfel der griechischen Regierung noch schärfere Austeritätsmaßnahmen auf. Das sei die Rückkehr des "grausamen Deutschen", warnte die Washington Post. Die Gipfelbeschlüsse seien "grausam um der Grausamkeit willen", schimpfte der britische Guardian. Der französische Figaro kommentierte bitter: "Es sind einem kleinen Mitgliedsland Bedingungen aufgezwungen worden, die früher nur durch Waffengewalt durchgesetzt werden konnten." Und die Irish Times griff zu blankem Sarkasmus. "Was ist der Unterschied zwischen der Mafia und der gegenwärtigen europäischen Führung?", fragte das Blatt trocken: "Die Mafia macht dir ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst. Die Führer der Europäischen Union machen dir ein Angebot, das du weder ausschlagen noch annehmen kannst, ohne dich dabei selbst zu vernichten."
Die offene, brutale Unterwerfung Griechenlands unter die deutsch-europäischen Kürzungsdiktate ist, so beschreibt es der Publizist Tomasz Konicz in "Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa", der bisherige Gipfelpunkt des deutschen Durchmarschs in der EU. "Geburtsstunde" dieses Durchmarschs ist, urteilt Konicz, die Einführung der Agenda 2010 durch die rot-grüne Koalition gewesen: Durch die "Absenkung des Preises der Ware Arbeitskraft" und die "Verschärfung des Arbeitsregimes" konnte sich die deutsche Wirtschaft Vorteile verschaffen, die es ihr ermöglichten, ausländische Rivalen gnadenlos niederzukonkurrieren. Das trieb vor allem die südeuropäischen Eurostaaten in eine Krise, aus der sie sich bis heute nicht erholt haben, die es Berlin aber erlaubte, ihnen ein rigides Austeritätsregime aufzuzwingen, das zu katastrophalen Folgen führte: In so manchen Regionen macht sich, so formuliert es Konicz, "ein frühkapitalistisch anmutender Pauperismus breit", mit Arbeitslosenquoten von mehr als 30 Prozent, mit einem Anschwellen von Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit, mit krasser Armut - während die Exportüberschüsse der Bundesrepublik boomen. "Immer mehr Volkswirtschaften" werden "von Prekarisierungs- und Pauperisierungsschüben erfasst" - eine dramatische Entwicklung, die auf Dauer auch für die Wohlstandszentren kaum ohne Folgen bleiben kann und sich, so heißt es warnend, früher oder später auch dort als "Dystopie realisieren wird".
Sein Buch ist, schreibt Konicz, "zuallererst eine Generalabrechnung": "eine Abrechnung mit einem verhängnisvollen Großmachtstreben der deutschen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft, das eine erstaunlich langfristige Konsistenz aufweist und auf ein altes Ziel hinarbeitet, an dessen Realisierung Deutschland bereits zweimal scheiterte: das Erreichen einer deutschen Hegemonie in Europa." Dabei wird der dritte Anlauf, wie Konicz in dem überaus lesenswerten Band festhält, "mit ökonomischen Mitteln und Methoden, als eine Art Wirtschaftskrieg, geführt". Die Opfer dieses Wirtschaftskrieges verzeichnen ganz besonders die südeuropäischen Krisenstaaten - allen voran Griechenland.