Der Spannungsfall

Leitmedien treiben die Debatte über die Ausrufung des „Spannungsfalls“ voran, einer Vorstufe zum „Verteidigungsfall“. Er wäre mit erheblichen Einschränkungen grundlegender Rechte verbunden.

BERLIN (Eigener Bericht) – Deutsche Leitmedien treiben die Debatte über die Ausrufung des „Spannungsfalls“, einer Vorstufe zum „Verteidigungsfall“, voran. Am Mittwoch begründete der Außen- und Militärpolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) zum ersten Mal die Forderung, in der Bundesrepublik den Spannungsfall auszurufen, in einer reichweitenstarken Sendung der öffentlich-rechtlichen ARD. Kiesewetter hatte sich bereits Ende 2024 dafür ausgesprochen. Der Spannungsfall dient, wie es bei der Bundeswehr ausdrücklich heißt, „der Mobilmachung“. Er sieht erhebliche Einschränkungen für die gesamte Gesellschaft vor; so umfasst er die sofortige Inkraftsetzung der Wehrpflicht für alle Männer ab 18 Jahren, erlaubt die zwangsweise Heranziehung zivilen Personals – so etwa von Ärzten – für die Versorgung des Militärs und ermöglicht es zudem, private Unternehmen zu verpflichten, militärische Güter zu produzieren. Konkrete Planungen für derlei Szenarien sind längst in Arbeit, so etwa im Gesundheitswesen. Dort soll zum Beispiel eine „umgekehrte Triage“ eingeführt werden, bei der leicht verletzte Militärs in puncto Behandlung in Krankenhäusern grundsätzlich Vorrang vor schwer verletzten Zivilisten erhalten.

Zwischen Frieden und Krieg

Rechtliche Grundlage für den sogenannten Spannungsfall ist Artikel 80a des Grundgesetzes. Darin heißt es, seine „Feststellung“ werde vom Bundestag vorgenommen; sie bedürfe „einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen“. Inhaltlich präzise definiert ist der Spannungsfall nicht. Allgemein heißt es, er sei „eine Vorstufe zum Verteidigungsfall“; er sei auszurufen, wenn für die Bundesrepublik „eine bedrohliche Situation“ vorliege, die zum Krieg eskalieren könne.[1] Bei der offiziösen Bundeszentrale für politische Bildung heißt es dazu: „Es muss jedenfalls die hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass sich eine außenpolitisch schwierige Lage zu einem bewaffneten Angriff verdichten könnte.“[2] In der aktuellen Mediendebatte heißt es mit Blick auf den Machtkampf mit Russland, in dem Moskau regelmäßig „hybride Kriegführung“ vorgeworfen wird (german-foreign-policy.com berichtete [3]), der Bundestag dürfe „den Spannungsfall wohl auch als Reaktion auf hybride Bedrohungen beschließen“ [4]. In umgangssprachlicher Beschreibung ist oft von einem Zustand „zwischen Frieden und Krieg“ die Rede. Bundeskanzler Friedrich Merz bekräftigte Ende September: „Wir sind nicht im Krieg, aber wir leben auch nicht mehr im Frieden.“[5]

Sicherstellungsgesetze

Die Ausrufung des Spannungsfalls hätte erhebliche praktische Konsequenzen. Sie „dient der Mobilmachung“, wird ein Sprecher des Operativen Führungskommandos der Bundeswehr zitiert.[6] So würde etwa die Wehrpflicht für alle Männer ab 18 Jahren unmittelbar wieder in Kraft gesetzt; unbefristete Einberufungen zum Dienst an der Waffe wären erlaubt. Auch würden die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inland signifikant ausgeweitet; Militärs dürften dann etwa zum Schutz ziviler Objekte abgestellt werden oder den Verkehr regeln. Vor allem aber träten die sogenannten Sicherstellungsgesetze in Kraft, die für Arbeitskräfte und die Wirtschaft gelten. So könnten zivile Arbeitskräfte verpflichtend für militärische Aufgaben herangezogen werden; medizinisches Personal etwa – von Ärzten bis zu Krankenpflegern – könnte in Militärlazarette abgeordnet, Kraftfahrer könnten zum Treibstofftransport für die Bundeswehr, Privatpersonen zur Einquartierung von Soldaten verpflichtet werden.[7] Zudem dürften die Behörden Unternehmen zwingen, von der Bundeswehr benötigte Güter aller Art zu produzieren. Die Abordnung medizinischen Personals zu Tätigkeiten für das Militär ist bereits vor kurzem Übungsgegenstand eines Manövers in Hamburg gewesen (german-foreign-policy.com berichtete [8]).

Auf dem Weg in den Krieg

Erstmals in die Diskussion gebracht hat die Ausrufung des Spannungsfalls der Außen- und Militärpolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) im Dezember vergangenen Jahres.[9] Explizit gefordert hat er sie Ende September, als er, ungeklärte Drohnenflüge auch über deutschen Flughäfen ausnutzend, erklärte, es sei „am sinnvollsten, wenn der Spannungsfall ausgelöst“ würde.[10] Kiesewetter hat seine Position an diesem Mittwoch in der öffentlich-rechtlichen ARD erneut begründet.[11] Bereits im September hatte er erläutert, Vorteile der Ausrufung des Spannungsfalls lägen nicht bloß darin, dass „wesentliche Infrastrukturen durch die Bundeswehr geschützt“, sondern auch darin, dass „Zuständigkeitsketten gestrafft“ und nicht näher erläuterte „Optionen effizient genutzt“ werden könnten. Seitdem schwillt die Debatte über den Spannungsfall in den deutschen Leitmedien an. Ganz unabhängig davon, ob die Ausrufung des Spannungsfalls befürwortet wird oder nicht, führt sie zu einer weiteren Normalisierung des Gedankens, dass sich Deutschland auf dem unmittelbaren Weg in einen Krieg befindet und dass sich die Bevölkerung auf eine empfindliche Einschränkung ihrer Rechte einzustellen hat – bis hin zur unmittelbaren Einbindung sogar von Zivilisten in Hilfsarbeiten für das Militär.

Umgekehrte Triage

Letzteres wird längst praktisch vorbereitet. So schreiten die Planungen für die Nutzung ziviler Krankenhäuser im Kriegsfall voran. Hintergrund ist, dass Militärstrategen fest davon ausgehen, dass die Kapazitäten der Bundeswehrkrankenhäuser auch nicht im Entferntesten genügen, um die hohe Zahl an Verletzten – oft genannt wird eine Zahl von rund tausend pro Tag [12] – zu versorgen. In Berlin hat die Senatsverwaltung in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr, der Berliner Krankenhausgesellschaft sowie zwölf Kliniken ein Arbeitspapier erstellt, das das Vorgehen des Krankenhauspersonals im Kriegsfall skizziert. Dazu zählen, wie es in einer Stellungnahme des vereins demokratischer ärzt*innen (vdää) heißt, eine sogenannte „umgekehrte Triage“, bei der „geringfügig verletztes militärisches Personal Vorrang“ sogar vor schwerverletzten Zivilisten bekäme, um die Soldaten „schnellstmöglich wieder einsatzfähig zu machen“; sodann „eine offene Diskussion“ über das „Sterbenlassen“ sogenannter hoffnungsloser Patienten; eine klare Umstellung von „Individualmedizin auf Katastrophenmedizin“ und nicht zuletzt „die Abgabe weitreichender Befugnisse in Krankenhäusern an Behörden und Militär“.[13]

Investitionsbedarfe

Zur Vorbereitung auf den Kriegsfall liegt mittlerweile auch eine Studie der Deutschen Krankenhausgesellschaft vor, die „Investitionsbedarfe“ zur Schaffung kriegsfester „Resilienz deutscher Krankenhäuser“ skizziert.[14] Die Autoren der Studie halten es unter anderem für erforderlich, Notstromaggregate und umfangreiche Trinkwasserreserven bereitzuhalten sowie Dekontaminationsanlagen zu beschaffen; die Funk- und Satellitenkommunikation für etwaige Notfälle auszubauen; nicht nur zusätzliche oberirdische Infrastruktur zu errichten – für den Fall, dass Krankenhäuser angegriffen werden – und Maßnahmen zum Objektschutz zu intensivieren, sondern auch „Ausweichbehandlungsräume“ unter der Erde zu bauen; die Rede ist von „Tiefgaragen“ und „Kellern“. „Die notwendigen Mittel zur Finanzierung“, heißt es, sollten dem sogenannten Sondervermögen der Bundesregierung zur Hochrüstung entnommen werden; sie werden auf knapp 15 Milliarden Euro beziffert. Wie der vdää festhält, werden die kostspieligen Planungen ungeachtet der Tatsache vorgenommen, dass die Kosten für zivile Krankenhäuser in der Bundesrepublik seit Jahren als „zu teuer“ bezeichnet werden – und dass „im Rahmen der aktuellen Krankenhausreform“ drastische Kürzungen gefordert werden.[15] Geld für den Krieg ist da, für das zivile Gesundheitswesen hingegen nicht.

 

[1] Patrizia Kramliczek: Zwischen Frieden und Krieg: Was bedeutet „Spannungsfall“? br.de 22.10.2025.

[2] Pierre Thielbörger: Notstandsverfassung. bpb.de.

[3] S. dazu Kriegstüchtige Geheimdienste.

[4] Jakob Hartung: Ein Schritt, der alles verändern könnte. t-online.de 01.10.2025.

[5] Thomas Sigmund: Deutschland schwebt zwischen Krieg und Frieden. handelsblatt.com 27.09.2025.

[6] Patrizia Kramliczek: Zwischen Frieden und Krieg: Was bedeutet „Spannungsfall“? br.de 22.10.2025.

[7] Jakob Hartung: Ein Schritt, der alles verändern könnte. t-online.de 01.10.2025.

[8] S. dazu Hamburg im Krieg.

[9] S. dazu Das Mindset für den Krieg.

[10] Dietmar Neuerer: CDU-Politiker fordert Ausrufung des Spannungsfalls. handelsblatt.com 29.09.2025.

[11] Maischberger. daserste.de 12.11.2025.

[12] S. dazu „Krieg geht alle an“.

[13] Missachtung der ärztlichen Berufsordnung im Kriegsfall geplant. vdaeae.de 29.10.2025.

[14] Deutsches Krankenhaus Institut: Investitionsbedarfe zur Herstellung der Resilienz deutscher Krankenhäuser. Endbericht für die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. Düsseldorf, 28.10.2025.

[15] Oberirdisch: Bettenabbau und Krankenhausschließungen, unterirdisch: Milliardeninvestitionen. vdaeae.de 03.11.2025.


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