Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter

Zur Legende vom Werden der Nationen. Frankfurt/Main: Fischer (Tb.), 2002 ISBN 3596601118 12,90 Euro

Der Verfasser, Patrick J. Geary, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der University of California, Los Angeles, stellt fest, dass in Europa Nationalismus, Ethnozentrismus, Rassismus ,,nach fünfzigjährigem Schlummer"mit verstärkter Macht zurück kehren; Antisemitismus, religiöser Chauvinismus und ein atavististischer Rassismus seien wieder populär geworden. In Deutschland sei wieder die Parole ,,Deutschland den Deutschen!"zu hören. Gefährlicher als das Wiederaufleben rechtsextremer Gruppierungen sei aber die neuerliche Debatte über die Frage, wer berechtigt sei, am deutschen Wohlstand teilzuhaben: ,,Wer ist ein Deutscher? Kann ein Emigrant Deutscher werden, oder ist die deutsche Identität eine Sache des Blutes, der Rasse? (...) Diese Fragen sind in der Vergangenheit schon einmal gestellt worden - mit furchtbaren Konsequenzen."

Das frühe Mittelalter sei, so Geary, zum Dreh- und Angelpunkt einer Rhetorik geworden, die Ansprüche auf die Gegenwart und auf die Zukunft erhebe. Politisch bewusster Nationalismus und Rassismus eigneten sich zu ihrer eigenen Rechtfertigung die Geschichte an und pervertierten sie. Diese Pseudogeschichte gehe erstens davon aus, dass die europäischen Völker klar voneinander abgegrenzte, stabile und objektiv identifizierbare soziale und kulturelle Einheiten seien, die sich durch eindeutige und unveränderliche Merkmale wie Sprache, Religion, Brauchtum und Nationalcharakter voneinander unterschieden. Diese Völker sollen entweder in einem fernen Moment der Prähistorie entstanden oder im Laufe eines Prozesses, der sich irgendwann im Mittelalter vollzog und ein für allemal endete. Zweitens zielen die ,,ethnischen"Ideologien auf politische Autonomie für alle Personen, die einer bestimmten ,,ethnischen"Gruppe angehören; gleichzeitig pochen sie auf das Recht eines ,,Volkes", sein historisches Territorium zu bewohnen, das gewöhnlich nach mittelalterlichem Vorbild definiert wird.

Geary untersucht detailliert die ,,ethnische"Formation und Migration von der Antike bis zum Ende des Frühmittelalters und stellt fest, dass soziale und politische Gruppen stets komplexe, in ständigem Wandel begriffene Zusammenschlüsse waren. Zugehörigkeit, Ziele und Identität unterlagen permanenten Verhandlungs-, Auseinandersetzungs- und Umwandlungsprozessen. Von Anfang an waren die Völker jenseits des Rheins und der Donau keine homogenen Sprach- und Kulturgruppen, die durch ihre Abstammung oder auch nur durch eine gemeinsame Tradition verbunden waren. In Wahrheit seien weder die Völker Europas noch ihre mutmaßlichen Rechte auf politische Autonomie sonderlich alt. Die Souveränitätsansprüche, die heute in Europa erhoben werden, seien ein Produkt des 19. Jahrhunderts, eines Zeitalters, das - insbesondere in Deutschland - die romantische politische Philosophie mit einer ,,wissenschaftlichen"Geschichte und indo-europäischen Philologie kombinierte und so den ,,ethnischen"Nationalismus hervorbrachte, der versuchte, nationale Souveränitätsansprüche möglichst tief in der Geschichte zu verankern.

,,Ethnisch"begründete Forderungen nach politischer Autonomie müssten heute unweigerlich zu Grenzkonflikten, zur Unterdrückung der Rechte betroffener Minderheiten und zu Unruhen in der Zivilbevölkerung führen, warnt der Historiker, da jede Gruppe bestrebt sei, ,,ihren"ethnisch homogenen Territorialstaat zu errichten - auch um den Preis brutaler ,,ethnischer Säuberungen". Beunruhigend sei vor allem die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft und sogar pluralistische Gesellschaften wie die USA die Grundannahme akzeptierten, dass ,,Völker"als objektive Phänomene existierten und bereits diese Existenz an sich das Recht auf Autonomie begründe: ,,Mit anderen Worten: wir nehmen an, daß politische und kulturelle Identität irgendwie zur Deckung gebracht werden müssen. Wenn Litauer und Kroaten ihre eigene Sprache sprechen, ihre eigene Musik pflegen und ihre eigene Tracht tragen, dann müssen sie zwangsläufig auch ein Recht auf ihr eigenes Parlament und ihre eigene Armee haben."

Geary warnt eindringlich: ,,Diese Pseudowisssenschaft hat Europa zweimal zerstört und könnte den Kontinent ein drittes Mal in die Katastrophe stürzen."


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